(B6) Politische Religion, Utopie und Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert
Utopisches Denken und pseudoreligiöse Heilserwartungen werden oft in einen Zusammenhang mit der politischen Gewalt radikaler politischer Massenbewegungen und Diktaturen im 19. und 20. Jahrhundert gebracht. Dies gilt vor allem für den Bolschewismus und Nationalsozialismus, aber auch für neomarxistische Bewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Entwurf eines „Gegenbildes von einer gereinigten Welt“ zusammen mit der „Anwendung eines Heilsvokabulars“ (Joachim Fest) und der Vorstellung von einem neuen Menschen werden als zentrale Inhalte utopischen Bewusstseins genannt. Das Spannungsverhältnis von utopischer Zukunftsvision und depravierter, krisenhafter Gegenwart mündet nach dieser Deutung in eine verstärkte Gewaltbereitschaft.
Am Beispiel der 1968er Bewegung, die als ein internationales Phänomen und als signifikante Erscheinungsform einer sozialen Bewegung verstanden wird, sind in einem mehrstufigen und vergleichenden analytischen Verfahren zunächst die zentralen Elemente utopischen Bewusstseins einschließlich ihrer religiösen Tendenzen sowie ihre Funktion als Gegenwartskritik und Entwurf einer Zukunftsvision herausgearbeitet worden. Dann wurden die intellektuellen Wortführer und Träger (einschließlich von Theologen und Priestern) der entstehenden sozialen Bewegung bestimmt sowie die aus den utopischen Visionen einer nicht-entfremdeten, nicht-autoritären Gesellschaft abgeleiteten Deutungs-, Aktions- und Mobilisierungsformen bis hin zu der Entstehung eines militanten Aktivismus untersucht. Untersuchungsfelder waren mit Blick auf die verschiedenen politischen Kulturen einschließlich der differenten Bedeutung der Kirchen und Konfessionen die Bewegungen der Neuen Linken in Frankreich, Deutschland und in Italien. Ergänzend dazu wurden Studien zu Formen von "Zivilreligion" und "politischer Religion" in Frankreich (19. Jahrhundert, Dritte Republik) und in der Türkei (Herrschaft Mustafa Kemal Atatürks, Kemalismus) durchgeführt.
Ziel der Forschungen war es, durch den interkulturellen Vergleich einen trennscharfen Begriff von „politischer Religion“ zu entwickeln und die Bedeutung der verschiedenen quasi- religiösen Repräsentationsformen und „säkularen Glaubensannahmen“ (Küenzlen) für die Entwicklung radikaler Deutungs- und Aktionsmuster zu bestimmen. Ferner wurden die Motive, Ursachen und gemeinschaftsbildenden Formen von politischer Gewalt in ihrer instrumentellen und kommunikativen Form sowie der Zusammenhang mit der (Selbst-) Sakralisierung von politischen Leitfiguren und Akteuren sowie mit den ästhetischen Dimensionen bzw. Ritualisierungen der Repräsentation von Gewalt betrachtet, die zur Stärkung der Glaubensdimensionen und Heilserwartungen, aber auch zur Integration in die soziale Bewegung beigetragen haben.
Der Projektleiter hat zusammen mit Dr. Christina Schröer eine Tagung zum Thema „Sakralisierte Politik“ veranstaltet, deren Beiträge demnächst publiziert werden sollen. Außerdem hat er die Konzeption der Ausstellung „Aufbruch der Jugend“ erarbeitet, die 2013 im Germanischen Nationalmuseum gezeigt wurde, und an der musealen Umsetzung sowie an dem Katalog mitgewirkt. Dabei wurde erstmals als Beitrag zu einer Kulturgeschichte der Reformprojekte eine Dokumentation einschlägiger Bildzeugnisse und Sachzeugnisse erarbeitet. Aus diesem Zusammenhang stammt auch der Aufsatz: „Annäherungen an die Jugendbewegung. Der Maler Max Schulze-Sölde“, in: Und die Karawane zieht weiter. Festschrift für Jürgen Reulecke, Ebersdorf 2015, S.87-102. Schulze-Sölde war ein Repräsentant eines religiösen Sozialismus und der Siedlungsbewegung der Zwischenkriegszeit. Schließlich hat sich der Projektleiter auf der Grundlage des Fotoarchivs im Landesarchiv Berlin mit dem Band „Berlin im Dritten Reich. Herrschaft und Alltag unterm Hakenkreuz“, Berlin 2014, um einen Beitrag zur historischen Fotografie und Alltagsgeschichte bemüht. Für ein Lexikon zur Ikonographie der Revolution“, hrsg.von R. Reichardt, hat er zwei Artikel zum Thema „Fest“ und „Terreur“ verfasst.
Workshop "Sakralisierte Politik und politische Religion" am 11. und 12. Februar 2010