(B2-19) Zwischen religiöser Frömmigkeit und politischer Reflexion: Die Erkenntnisfunktion narrativer und allegorischer Repräsentation in Texten des Trecento (Dante, Petrarca, Boccaccio)

Das Projekt mit dem Schwerpunkt im Italien des 13. Jahrhunderts knüpft an die Perspektive des ersten Cluster-Forschungbereichs „Autorschaft“ an und erweitert die subjektorientierte Fragestellung hin auf Repräsentationen des Raums.

Ein besonderer Raum als Einsamkeitsort und als Bühne für die Selbstrepräsentation des Autors soll ins Zentrum der Analyse rücken: die Landschaft. Neben dem städtischen und klösterlichen Raum gewinnt die „Landschaft“ als Gegenstand von Dichtung und als dargestellter Raum, in dem sich Dichterfiguren ansiedeln, in der Literatur vom Mittelalter zur Renaissance stark an Bedeutung.  In der Landschaft als Inspirationsort entsteht Dichtung, Dichterfiguren bewegen und halten sich an Landschaftsorten auf. Der ländliche, rurale Raum steht dabei sowohl zu gesellschaftspolitischen Bereichen der Stadt als auch zu religiös-allegorischen Orten in einem Spannungsverhältnis. Solange Natur als göttlich strukturiert zu denken ist und jedes Element der Schöpfung (allegorisch) als Teil einer allumfassenden heilsgeschichtlichen Ordnung gedeutet wird, organisiert nicht wahrnehmende Subjektivität Gemälde oder literarische Darstellung. Vielmehr verweist jedes Element der Natur auf den göttlichen Urheber und steht damit innerhalb einer theologischen Ordnung. Die Lesbarkeit der Natur als göttliche Schöpfung lässt für die subjektive Ausdeutung von Landschaft keinen Platz. Landschaft gehört zum subjektiven Erfahrungshorizont des Menschen, ihre Ausbildung geht mit einer bebildernden und deutenden Wahrnehmung und Darstellung einher, die auf die Inventio und die Imaginatio des Menschen verweisen. Insofern ist die Landschaft par excellence ein Ort und ein Medium der Fiktion. Literarische Texte haben, so der Konsens moderner Literaturtheorie, im Unterschied zu theologischen oder juristischen Texten einen Mehrwert, der über den propositionalen oder referentiellen Gehalt hinausgeht und sich im Begriff der Fiktionalität definieren lässt. Worin besteht der Mehrwert der Landschaftsfiktion? Die fiktionalen Landschaftsräume situieren sich zumeist adversativ oder in kritischer Funktion  zu bestehenden gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Räumen der Stadt. Sie erweitern und modifizieren gültige Normen und Tradition. Ein Beispiel dafür gibt etwa der locus amoenus des Limbus als Aufenthaltsort der antiken Dichter und als Raum eines (geheimen) Gesprächs zwischen Dante und Vergil oder auch Boccaccios Decameron mit der Eröffnung eines Landschaftsortes als Raum der Narration und Kritik gesellschaftlicher (religiöser und juristischer) Normen. Ausgehend von einem Forschungsschwerpunkt der Projektleiterin sollen die Funktionen von Landschaft bei Petrarca, vornehmlich im Canzoniere, untersucht werden. Ein weiteres Forschungsprojekt einer/s Mitarbeiters zur skizzierten Fragestellung soll Gegenstand einer Qualifikationsarbeit sein.

B2-19 Projektseite Simone Martini Frontispice Du Virgile
Frontispiz des "Virgilio ambrosiano" (Simone Martini, zwischen 1338-1343, Mailand, Biblioteca Ambrosiana)
© wikipedia

Von Simone Martini stammt das sehr schöne, berühmte Frontispiz, das er für Petrarcas Vergilkodex angefertigt hat. Der Vergil-Kommentator Servius hebt einen Schleier hinweghebt, der ungefähr die Bildmitte markiert. In betonter Gestik des zeigenden Fingers verweist Servius auf den unter einem Baum sitzenden, an den Baumstamm gelehnten Vergil. Der Dichter trägt ein weißes, auch Beine und Füße verhüllendes Gewand und sitzt direkt an der Schwelle zwischen grünem Diesseits und blauem Jenseits. Diese Grenze ist durch die schematisiert gemalte Dreier-Baumreihe zusätzlich vertikal markiert. Auch Vergils Gestik, die eine Feder haltende, ins Firmament weisende Hand, ist hervorgehoben. Der schwere Einband im Raum jenseits des Schleiers und die von zwei Flügeln gehaltenen Schriftrollen im diesseitigen Grün verweisen auf Sprache und Schrift. Die drei weiteren Figuren sind Personifikationen für die drei großen Werke Vergils: die Aeneis, die Georgica und Bucolica. Typologisch werden in den Figuren sozialer Stand und ausgeübte Tätigkeit und damit zugleich die drei unterschiedlichen Stillagen verdeutlicht.

Der dargestellte Raum ist (noch) kein Landschaftsraum. Die Illustration zeigt die struktur- und normbildende Kraft von Dichtung, die sowohl einen vertikal ausgerichteten Raum konstruiert als auch die menschliche Lebenswelt in Typen klassifiziert.

Teilprojekt: Novellistik und Recht. Giovanni Boccaccios Decameron (Dr. Pia Claudia Doering)

Das Recht bildet – neben der Religion – die entscheidende Grundlage für die Entstehung der italienischen Literatur des Mittelalters. Das Aufkommen eines wissenschaftlich fundierten Rechtssystems, seine Verbreitung durch die neu gegründeten Universitäten und die Ausbildung zu Berufsjuristen ziehen in Italien tiefgreifende gesellschaftspolitische, kulturelle und sprachliche Veränderungen nach sich. Giovanni Boccaccio, der laut einer Selbstaussage auf Wunsch seines Vaters sechs Jahre lang kanonisches Recht studiert, reflektiert die Jurisprudenz und ihre gesellschaftliche Bedeutung in den Novellen des Decameron. Die Erzählerschar beruft sich auf das Naturrecht, die „natural ragione“, als sie vor der Pest aus Florenz flieht. Im Kontrast zum städtischen Leben, das durch die Katastrophe aus den Fugen geraten ist, behandeln die auf einem idyllischen Landgut nach einer festen Struktur vorgetragenen Novellen bestehende Ordnungen unterschiedlicher geographischer, politischer, religiöser, öffentlicher wie privater Räume. Dem Recht, seinen Vertretern und Institutionen sowie seinen Methoden und seiner Sprache kommt dabei besonderes Augenmerk zu. Die Erzählerinnen und Erzähler definieren Züge des Juristen, indem sie ihn dem Theologen und dem Künstler konfrontieren. Möglichkeiten juristischer Wahrheitsfindung und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten des (Ver-)Urteilens, wie sie aus den von der Inquisition angewandten Verfahren resultieren, und der Rechtswandel vom irrationalen zum rationalen Beweis werden erfasst und kritisch befragt. Unterschiedliche Gerechtigkeitskonzeptionen werden dem gelehrten Recht entgegengestellt und mögliche Strafsysteme diskutiert.

Das Teilprojekt widmet sich der Darstellung des Rechtsraumes in Boccaccios Decameron. Es will die rechtsgeschichtlichen Grundlagen der Novellensammlung ergründen und ihre Transformation ins Literarische erfassen. Im Zentrum steht die Frage, was die spätmittelalterliche Novellistik als Beobachtungsinstanz von Recht leistet.


Das Projekt ist Teil der Arbeitsplattformen E Differenzierung und Entdifferenzierung und G Religion, Politik und Geschlechterordnung sowie der Koordinierten Projektgruppen Implementation und Durchsetzung von Normen und Mediale Figurationen des Politischen und des Religiösen.