(A2-20) Rechts- und Gerichtspluralismus als Antwort auf normative Krisen
Der sichtbarste rechtliche Ausdruck religiöser Pluralisierung ist deren normativer Nachvollzug in Gestalt einer wenigstens partiellen Anerkennung religiös geprägter Verhaltensnormen durch die staatliche Rechtsordnung. Sie kann kulminieren entweder in der bereichsspezifischen Berücksichtigung religiösen Rechts durch staatliche Gerichte oder in der Sanktionierung der Entscheidungen geistlicher Gerichte, die wiederum bereichsspezifisch alternativ neben den staatlichen Richter treten oder dessen Anrufung ganz ausschließen. Ein derart institutionell unterfangener Rechtspluralismus hat in der islamischen Welt eine lange Tradition und prägt die (staatlichen) Rechtsordnungen arabischer Länder (und Israels) bis heute. Weltweit wird heute intensiv diskutiert, ob Verfassungsstaaten auf die primär als krisenhaft erlebte religiöse Pluralisierung der Gesellschaft ihrerseits Zuflucht zum Konzept des Rechtspluralismus nehmen oder ganz im Gegenteil die beispielsweise im sogenannten Internationalen Privatrecht längst existierenden pluralistischen Elemente zurückschneiden sollen, um als problematisch empfundene Wertungen religiöser Normen – in aller Regel der islamischen šari’a – keinerlei Raum in der staatlichen Rechtsordnung zu geben.
Im Anschluss an das primär historisch angelegte Projekt C4 Geistliche Gerichtsbarkeit religiöser Minderheiten soll nunmehr mit einem normativen respektive rechtstatsächlichen Forschungsinteresse gefragt werden, inwiefern die Institutionalisierung einer – weit verstandenen – religiösen Gerichtsbarkeit sich als spezifisch rechtliche Reaktion auf das Phänomen der Multireligiosität sowie in Sonderheit als Reaktion auf eine damit einhergehende Krise der bislang bestehenden normativen Ordnung begreifen lässt. Das legen die bisherigen Ergebnisse der rechtshistorischen wie der – soziologisch informierten – rechtsvergleichenden Untersuchung in gleich mehrfacher Hinsicht nahe: Die Resultate der ersten Projektphase belegen zunächst, dass aus der Binnenperspektive die Nutzung geistlicher Gerichtsbarkeit dann forciert oder zumindest eingefordert wird, wenn entweder die Binnenkohärenz der religiösen Gruppe darunter leidet, dass staatliche oder rivalisierende religiöse Gerichte angerufen werden oder die eigene religiös geprägte Normenordnung als inferior erlebt wird und entsprechend an normativer Kraft einbüßt. Gerade mit Blick auf den ersten Befund wird im weiteren Verlauf der Untersuchung auch auf Prozesse der Binnenpluralisierung und Ausdifferenzierung religiöser Gruppen zu achten sein, wobei die Rolle beziehungsweise Wahrnehmung der Geschlechter besondere Aufmerksamkeit beansprucht.
Evident ist umgekehrt, dass namentlich in den gegenwärtigen „westlichen“ Verfassungsordnungen die Diskussion über das Konzept eines wie auch immer näher ausbuchsta-bierten Rechtspluralismus einen wesentlichen Impuls aus dem Unbehagen an der als im Scheitern begriffenen Integration des Islam in die säkulare Rechtsordnung empfängt. Speziell in der Bundesrepublik geht mit dieser Debatte auch eine mit Händen zu greifbare Krise der bisherigen normativen Fundierung des Verhältnisses von Staat und christlichen Großkirchen einher. Die Fragen „Ausdehnung des Staatskirchenrechts auf muslimische Verbände“ und „Übergang vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht“ sind hier zwei Seiten einer Medaille.
Konkret wird das Projekt zunächst rechtsvergleichend erheben, wie die normative Ordnung eines solchen Rechtspluralismus in ausgewählten Staaten der westlichen Verfassungstradition (neben der Bundesrepublik die USA, Großbritannien und Kanada) wie des Vorderen Orients (Israel, Ägypten, Jordanien und der Libanon) de lege lata ausgestaltet ist. Daran schließt sich die Erörterung an, ob eine solche Pluralisierung de lege ferenda zulässig oder gar durch Sätze des Verfassungs- oder des Völkerrechts geboten ist. In beiden Perspektiven ist dabei vor dem Hintergrund der Ergebnisse der ersten Projektphase zu fragen, ob sich entsprechende Institutionalisierungsprozesse oder -bestrebungen als sachgerechte Reaktion auf pluralisierungsinduzierte normative Krisen deuten lassen.
Das Projekt ist Teil der Arbeitsplattform G Religion, Politik und Geschlechterordnung.