Europa – von der Krise gezeichnet. Raumtheoretische Analysen zur Darstellung der europäischen Krise in der Literatur des 21. Jahrhunderts
Seit mehreren Jahren begleitet uns die Krise des europäischen Kontinents, die in den Medien oftmals auf die kritische Situation der Gemeinschaftswährung des Euro reduziert wird. Die zahlreichen Diskurse zu Europa und seiner Idee unterstreichen, dass der Kontinent irgendwie immer auf unterschiedlichste Weise fraglich, obschon auf Landkarten festgehalten, doch unscharf konturiert und stetigen Veränderungen unterworfen ist.
Durch die gegenwärtige Krise denken wir zunehmend mehr über den ,Raum Europa‘ nach, weshalb sich eine raumtheoretische Analyse des Krisen-Begriffs in der Literatur nicht nur anbietet, sondern geradezu aufdrängt. Die Krisensituation, die den reibungslosen Ablauf stört und somit auf einen Systemfehler, in diesem Fall insbesondere auf einen möglichen Konstruktionsfehler des Euro, hindeutet, führt uns vor Augen, wie sehr die Staaten, nicht nur in Europa, sondern weltweit, infolge der Globalisierung miteinander verflochten und voneinander abhängig sind. Die Krise als Unterbrechung eines Kontinuums ist mit Angst behaftet, vorrangig, die Existenzgrundlage zu verlieren, die Furcht vor einer Katastrophe wie dem Zusammenbruch der Euro-Zone. Gleichzeitig wohnt der Krise aber auch Hoffnung auf Besserung inne, auf eine Wende zum Guten hin; auf jeden Fall führt sie dazu, dass Missstände offengelegt und öffentliche Debatten angeregt werden.
Im Zuge der politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen Europas beschäftigt sich auch die Literatur mit diesen Krisen-Erscheinungen, wobei essayistische Werke bislang überwiegen. In diesem Zusammenhang sind etwa Hans Magnus Enzensbergers Sanftes Monster Brüssel (2011), Robert Menasses Der europäische Landbote (2012), Geert Maks Was, wenn Europa scheitert (2012) oder Ulrich Becks Das deutsche Europa (2012) besonders hervorzuheben. In der Literatur werden imaginäre Räume geschaffen, in denen zukünftige Politik-, Wirtschafts- oder Gesellschaftsmodelle durchgespielt und für eine Übertragbarkeit auf das 'reale Europa' erprobt werden.
Das Dissertationsprojekt baut auf dem ,spatial turn‘ auf und untersucht, wie Europa in der vorrangig deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dargestellt und entworfen wird. Dabei findet der raumtheoretische Zugang über die Kategorie der ,Krise‘ und unter Berücksichtigung der Theorien von Michel de Certeau (→ Kunst des Handelns) sowie Michel Foucault (→ Heterotopien) statt. In dem Projekt werden Raumtheorie und Krise miteinander verknüpft, um in einem ersten Schritt die Auswirkungen der Krise auf die Darstellung des politischen und wirtschaftlichen Europas in der Literatur zu beleuchten und die Rolle der Entscheidung als zentrales, Räume öffnendes oder schließendes Momentum der Krise zu betrachten. Anschließend wird die belgische Hauptstadt Brüssel einer gezielten raumtheoretischen Analyse unterzogen; gerade der Hauptsitz der Europäischen Union bildet sich in der Gegenwartsliteratur immer mehr zu einem neuen europäischen Topos heraus.
Während die vorangegangenen Teile des Projekts tendenziell einen Blick ,von oben‘ auf Europa bieten, wird die Perspektive in Brüssel durch die Verknüpfung von Atmosphäre und Raum um eine Betrachtung ,von unten‘ ergänzt. Dies wird durch die Fokussierung auf verschiedene Figuren, die den 'Raum Europa' bereisen und durchqueren – in ihm handeln –, ebenfalls unterstrichen. Abgerundet wird das Dissertationsprojekt durch eine Analyse der Rolle der Schriftstellerinnen und Schriftsteller in der gegenwärtigen Krise Europas. Vielleicht kann gerade die Literatur, so eine These des Projekts, die sich differenziert mit dem Topos der europäischen Krise auseinandersetzt, ihren nicht unwesentlichen Teil dazu beitragen, dass Europa im Prozess bleibt, gemeinsam über seine Möglichkeiten nachdenkt und somit neue Handlungsspielräume für die Zukunft des Kontinents eröffnet.
Fach: Germanistik
Betreuerin: Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf