Diskurse des Kalten Krieges in der Literatur des geteilten Deutschlands. Eine synthetisierende Perspektive zur deutsch-deutschen Literaturgeschichte als Beziehungsgeschichte und Kommunikationszusammenhang 1949-1989.
Der russische Ministerpräsident Medwedew behauptet auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2016 zur Situation der „fragile[n] Weltlage“: „Wir sind in die Zeiten eines neuen Kalten Krieges abgerutscht“. Zugleich illustriert er seine Aussage mit einschlägiger Rhetorik: „heiße[r] Krieg“, „Stellvertreterkrieg“ und „Gefahr eines dritten Weltkrieges“, „mit verstärkter Aufrüstung und atomarer Abschreckung auf beiden Seiten“ sowie der Schlagzeile „Heißes Thema, kalter Krieg“ (TAZ, 15. Februar 2016) . Wer die gegenwärtige mediale Berichterstattung verfolgt wird bemerken, dass der Kalte Krieg seit seinem (vermeintlichen) Ende 1989 als Diskursformation einerseits sowie als rhetorisches Mittel andererseits (s)eine brisante Aktualisierung erfährt.
Mein Projekt macht es sich nun zur Aufgabe, diesen offensichtlich nach wie vor virulenten Diskursen des Kalten Krieges mit literaturgeschichtlichem Impetus nachzuspüren – und zwar in 90 digitalisierten Prosatexten der DDR und BRD, die zwischen 1949 und 1989 entstanden sind. Um einzelne Themenbereiche des umfangreichen Materials abzustecken und auf diese Weise einen analytischen Zugriff zu entwickeln, funktionalisiert die Arbeit den ursprünglich aus der Historiographie stammenden Terminus ‚Kalter Krieg’ im Sinne eines ‚Diskursbündels’ und interpretiert die fünf divergierenden Konfliktdimensionen dieser global aus-getragenen Auseinandersetzung wiederum als dessen einzelne ‚Diskursstränge’ . Konkrete Begriffe, Aussagen oder Passagen in Texten des Analysekorpus, die mit den jeweiligen Diskurssträngen korrespondieren, werden in der Dissertation als ‚Diskursfragmente‘ bezeichnet.
Dabei werden die in den Texten des Analysekorpus literarisierten Diskurse des Kalten Krieges als Ausdruck der zwischen den Texten bestehenden intertextuellen ‚Beziehungen‘ und inhaltlich-diskursiven Äquivalenzen begriffen und auf diese Weise als analysierbare transnationale Kommunikationszusammenhänge herausgestellt.
Mithilfe von atlas.ti, einer komplexen Software für qualitative und quantitative Datenanalysen, fahnde ich in den digitalisierten Texten zunächst manuell nach entsprechenden Diskursfragmenten und arbeite sie analytisch heraus, indem ich ihr (Nicht-)Vorhandensein im jeweiligen Text annotiere. Ein solch spezifisch informatisches Vorgehen ermöglicht es, anschließend mit diesen Annotationen zu ‚rechnen‘.
Das Tagging orientiert sich dabei stets an einem im Vorhinein festgezurrten ‚Katalog der Diskursfragmente des Kalten Krieges‘. Vermittels dieser Umwandlung der Textrohdaten in Smart Data ist es schließlich realisierbar, das digitale Textkorpus zusätzlich auch quantitativen Analysen zu unterziehen (z.B. Erstellung von Informationsvisualisierungen über die Verteilung einzelner Diskursfragmente in den Texten eines/mehrerer Jahrfünfte; Auszählungen einzelner spezifischer Begriffe).
Eine (qualitative) Diskursanalyse wird also zum Ausgangspunkt der quantitativen Erschließung eines digitalisierten Textkorpus nach der Methode einer Knowledge Discovery in Databases. Die Ergebnisse dieser Analysen werden dann wiederum zur Grundlage der Revision etablierter literaturgeschichtlicher Thesen.
Mithilfe dieser im ersten Arbeitsschritt gewonnen Erkenntnisse entwickelt die Arbeit schließlich die erste synthetisierende Perspektive deutsch-deutscher Literaturgeschichtsschreibung, die sich als Beziehungsgeschichte zwischen DDR- und BRD-Literatur in den Jahren 1949-1989 begreift und das Diskursbündel Kalter Krieg als ihren strukturgebenden Referenzpunkt interpretiert. Um diese Perspektive zu konkretisieren, die sich am Verbindenden und nicht – wie andere Literaturgeschichten – am Trennenden zwischen den beiden deutschen Literaturen orientiert, werden die Texte des Untersuchungskorpus anhand dreier wesentlicher Parameter systematisiert: (a) Entstehungsjahr der betrachteten Texte, (b) (nicht-)literarisierte Diskursfragmente sowie (c) länderspezifischer (Entstehungs-)Kontext.
In theoretischer Sicht verknüpft das Projekt text- und archivtheoretische Ansätze (Baßler) mit Vorstellungen eines semiotischen Kulturmodells (Posner) sowie der Theorie literarisch-diskursiver Felder (Bourdieu) und erweitert die bekannten literaturwissenschaftlichen Methoden der Diskursanalyse (Siefkes; Foucault) um ein distant bzw. scalable reading-Verfahren.
Insgesamt ist mein Forschungsprojekt damit im Bereich der Digital Humanities zu verorten, da es philologische qualitative Textanalysen mit quantitativen Ansätzen der Computerphilologie zusammenführt, um schlussendlich der Vision einer „mutual cooperation between human and computational reading[s]“ etwas näher zu kommen.
Fach: Deutsche Philologie
Betreuer: Prof. Dr. Moritz Baßler