An- und abstoßende Naturen. Zur Mechanik, Ästhetik und Poetik der Antikenrezeption in der Frühen Neuzeit
Die Entwicklung der Poetiken des 18. Jahrhunderts zur gemeinhin als ‚klassisch‘ bezeichneten Kunstauffassung der Goethezeit vollzieht sich im deutschsprachigen Raum nicht gleichförmig, sondern in Auseinandersetzung mit sehr unterschiedlichen kulturellen und begrifflichen Systemen. Es finden sich Äußerungen zur Geschichte der Kunst neben solchen zu Natur- und Bewegungsgesetzen, Konzepte von Dichtung und Schönheit werden erläutert durch Begriffe wie Einbildungskraft oder Vorstellungsvermögen. Die „Natur der Elegie“[1] trifft auf „vermischte Empfindungen“[2] und das „Wesen der Ode“[3] auf die „Ordnung der begeisterten Einbildungskraft“.[4] Das „Mechanische“[5] der dichterischen Sprache wird mit ihrer „Diktion“,[6] „Empfindung und Affekt“[7] mit „Wirkung und Ursache“[8] verglichen. Es treffen in dieser Zeit also verstärkt naturphilosophische, ästhetische und poetologische Begriffe aufeinander, die sich größtenteils gegenseitig begründen. Auf das Verhältnis dieser drei Beschreibungsebenen richtet sich meine Untersuchung.
Diese Frage lenkt den Blick unmittelbar auf die im 18. Jahrhundert entwickelten Naturbegriffe sowie deren Gültigkeit in der Kunst- und Dichtungstheorie. Da in dieser Zeit als wichtigste Chiffre für poetische Natürlichkeit eindeutig die Antike verhandelt wird, dürften sich in ihrer Rezeption organologische wie mechanische, empirische wie metaphysische Naturen begegnen. Während die metaphysische Natur hier als bevorzugtes Objekt der Forschung gelten kann, fehlt bislang eine entsprechende Darstellung der mechanischen Natur. Ein Schlüssel hierzu liegt zum einen in gattungspoetischen Taxonomien (eine bestimmte Gattung entspricht einer bestimmten Natur), zum anderen in der begriffs- und ideengeschichtlichen Aufarbeitung der ästhetischen/ästhetologischen Tradition. Denn zahlreiche Poetiken, Rezensionen und kunsttheoretische Abhandlungen der Aufklärung verpflichten sich zugleich antiken Paradigmen und psychomechanischen Begriffen wie „Einbildungskraft“, „Eindruck“, „Grad des Affekts“, „Vehemenz“ etc. in der Tradition Christian Wolffs und A. G. Baumgartens. Möglicherweise wird hierdurch das Zeitalter in seinem Verhältnis zur Antike abseits transzendentaler Verklärungsstrategien bestimmbar.
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[1] Abbt, Thomas: Betrachtungen über die Natur der Elegie. In: Nicolai, Friedrich (Hg.): Briefe, die Neueste Litteratur betreffend, 13. Teil, Berlin 1762, 47.
[2] Ebd.
[3] Mendelssohn, Moses: Gedanken von dem Wesen der Ode. In: Nicolai, Friedrich (Hg.): Briefe, die Neueste Litteratur betreffend, 17. Teil, Berlin 1764, 142.
[4] Ebd., 150.
[5] Engel, Johann Jacob: Von dem lyrischen Gedicht, S. 312. In: Nicolai, Friedrich (Hg.): Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten aus deutschen Mustern entwickelt, Berlin und Stettin 1783, 277-331.
[6] Ebd.
[7] Schmid, Christian Heinrich: Theorie der Poesie nach den neuesten Grundsätzen und Nachricht von den besten Dichtern nach den angenommenen Urtheilen, Leipzig 1767, 303.
[8] Ebd.
Fach: Germanistik
Betreuung: Prof. Eric Achermann (Germanistik, WWU Münster), Prof. Alexander Arweiler (Latinistik, WWU Münster), Prof. Heinz Drügh (Germanistik, Goethe-Universität Frankfurt)