Soteriologie des Lustmords. Das Paradigma der Erlösung in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften und in seinem Kontext
Maßgeblich durch die Philosophien Schopenhauers und Nietzsches vorangetrieben gelang es dem ursprünglich rein religiösen Paradigma der Erlösung zunehmend in weltlich-diesseitigen Kontexten Fuß zu fassen. ‚Erlösung‘ wurde unter den Bedingungen der Moderne aufgegriffen, transformiert und spätestens im frühen 20. Jahrhundert endgültig ‚veralltäglicht‘. Während die Theologie bei der Konturierung soteriologischer Konzepte keine zentrale Rolle mehr spielt, haben sich die Erlösungskonzepte jenseits religiöser Dogmen ungehindert vervielfältigen können. Und die Gesellschaft, die sich wie nie zuvor nach Erlösung sehnte, rezipierte diese neuen Soteriologien nur zu gerne. Sowohl dubiose Wanderprediger und selbsternannte Propheten als auch Künstler und Intellektuelle suchten dieses Bedürfnis mit eigenen Konzepten zu befriedigen und forcierten damit die Proliferation des Erlösungsdiskurses zusätzlich. Im August 1914 kulmminierte die weitverbreitete Erlösungssehnsucht schließlich in der Idee einer Erlösung durch den Krieg und prägte den ‚Geist von 1914‘ maßgeblich mit. Man sollte meinen, dass die Kriegsfolgen dieser ‚Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts‘ das Paradigma der Erlösung desavouiert hätten. Zwar hat sich der Erlösungsdiskurs in der Zwischenkriegsepoche tatsächlich merklich abgekühlt, bleibt aber weiterhin eine kulturelle Grunddisposition, die mit dem sich etablierenden Nationalsozialismus prompt wieder aktualisiert werden konnte und schon bald in die nächste Katastrophe führte.
Mein Dissertationsprojekt untersucht das Paradigma der Erlösung auf der Basis der literaturwissenschaftlichen Text-Kontext-Theorie Baßlers ausgehend vom kulturellen Archiv der Zwischenkriegsepoche und legt dabei einen besonderen Schwerpunkt auf Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften – nicht zuletzt deshalb, weil dieser „ganze Riesenroman […] erfüllt [ist] von einer auf alle Bewußtseinszustände und Erlebnismöglichkeiten ausgedehnten Erlösungssehnsucht.“ (Boehlich) Um der Komplexität des zu konturierenden Paradigmas und des zentralen Primärtextes gerecht werden zu können, soll für die Erforschung des Erlösungsparadigmas eine für die untersuchte Zeit repräsentative und – aus dem Blickwinkel der heutigen Kultur – exzentrische Diskurskollision nutzbar gemacht werden: Nicht nur im Mann ohne Eigenschaften, sondern auch in Texten Döblins, Hirschs, Kaltnekers, Weiß‘, Passons, Sanzaras‘ und Wassermanns wird ‚Erlösung‘ mit ‚Lustmord‘ enggeführt. Der Lustmord-Diskurs wurde bereits von Zeitgenossen als für ihre eigene Kultur repräsentativ eingeschätzt und in geradezu proto-kulturwissenschaftlichen Analysen zum Ausgangspunkt semiotischer Lektüren. Insbesondere im System der Kunst etablierte sich der Lustmord als neuer Topos der Ästhetik, Poetik, Kulturkritik – und Erlösung. Die Vergleichbarkeit von Lustmord und Erlösung bietet somit einen idealen Ausgangspunkt, um auf der Basis der dadurch hergestellten Äquivalenzbeziehungen der ominösen „Wortgruppe Erlösen“ (MoE) auf die Spur zu kommen und ihre Relevanz für die Kultur der Zwischenkriegsepoche herauszuarbeiten.
Fach: Neuere deutsche Literatur
Betreuer*innen: Prof. Moritz Baßler, Prof. Cornelia Blasberg