Poetische Müllszenen. Relationen zwischen Räumen, Figuren und Abjekten in der Gegenwartsliteratur
Seit dem 19. Jahrhundert und besonders dann im 20. Jahrhundert generieren moderne Wirtschaftsweisen massenhaft Reste, die größtenteils nicht wiederverwertet werden: Müll. Dieser ist einerseits ein Phänomen, das sich durch konkrete materielle und alltägliche Erfahrungen auszeichnet. Andererseits sind mit Müll verbundene Konzepte, Blickstrukturen und Praktiken, wie das Sammeln, Sortieren, Wegwerfen, Verbrennen, Verdrängen, Entsorgen oder Wiederverwerten, so bedeutend für moderne Kulturen, ihre grundlegenden Strukturen und Dimensionen, dass Abfall zurecht als „Kulturmetapher“ (Kuchenbuch) oder „Kulturprinzip der Moderne“ (Windmüller) bezeichnet wurde.
Entsprechend intensiv thematisiert die Literatur des 20. Jahrhunderts den Abfall, den Rest, das vermeintlich Überflüssige, Nutzlose und Randständige. Darüber hinaus zeigen sich für die Gegenwartsliteratur in den Darstellungen von Müll gänzlich neuartige Konstellationen, die mit einer rein oppositionellen Charakterisierung als ‚Kehrseite der Kultur‘ unzureichend beschrieben wären. Statt das Verhältnis diametral zu denken, wird der Fokus in dieser Studie darauf gelenkt, dass die Literatur nicht nur Kehrseiten der Kultur, ihre verdrängten Aspekte oder blinden Flecke verhandelt. Vielmehr liegt die Aufmerksamkeit auf den mit Müll verbundenen komplexen Wirkungen und Interaktionen. Daher wird mit dem in dieser Studie entwickelten Konzept der Müllszene betont, dass Müll von seiner Ontologie wie literarischen Darstellung her nicht nur konstruktiv oder materiell zu denken ist, sondern stets mit räumlichen und figürlichen Wirkungen verbunden ist. Des Weiteren wurde bisher meist ein anthropozentrischer Fokus beibehalten, der jedoch zentrale Eigenheiten von Müll unbeachtet lässt. An dieser Stelle setzt das Konzept der Müllszene an, um mit der Untersuchung der Beziehung von Räumen, Figuren und Müll den Eigenwert der poetischen Dynamiken herauszustellen.
In der gegenwärtigen Literatur zeigen sich dabei grundlegende Neuerungen und Verschiebungen in den Relationen und Interaktionen, etwa im Verhältnis zwischen Kunststoffmüll und Naturraum. Auch literarische Verhandlungen über soziale Ungleichheit und das gesellschaftliche ‚Unten‘ werden über die Darstellung von Abfällen geleistet. Ferner lässt sich in Texten der 2000er Jahre eine auffällige Zunahme der Schilderung von Messie-Figuren beobachten. Dies offenbart eine verstärkte Reflexion über Macht- und Autonomiefragen im Hinblick auf das Verhältnis des Menschen zu seinen Objekten und ist mit spezifischen Textverfahren verbunden.
Fach: Germanistik
Betreuerinnen: Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf (WWU Münster), Prof. Dr. Ulrike Vedder (HU Berlin)