Krankheit – Sprache – Ethik. Medizin- und literaturethische Dimensionen von Krankenbiographien
In den Grundfragen des menschlichen Seins verbinden sich Literatur und Ethik. So sind der Mensch und mit ihm verbundene Wert-, Handlungs- oder Gerechtigkeitsvorstellungen fundamentale Gegenstände des ethischen Diskurses und waren von Beginn an auch zentrale Ursache und Inhalt literarischer Textproduktion. Besonders virulent wird die Ethikfrage in existenzialen Grenzsituationen wie Krankheit, Schmerz und Sterben. Für die Betroffenen führt dieser hochsensible Moment der Grenzerfahrung zu einer besonderen Schutzbedürftigkeit. Realweltlich sind es sicherlich gerade die Medizin und Medizinethik, welchen die Aufgabe zukommt, sich der Belange beispielweise des Patienten anzunehmen – doch wie steht es in der Literatur mit dem Schutz der involvierten Personen? Der Gattung der Patho¬graphie als Verschriftlichung solcher Grenzsituationen kommt in diesem Kontext besondere Bedeutung zu. Aufgrund ihres hohen ethischen Informationsgehalts, aber auch ihrer Verantwortung gegenüber den in die Krankheitsdarstellung involvierten Personen stellt sich damit die Frage nach der spezifischen Ethik der Krankenbiographik und den hierfür adäquaten Analyseinstrumenten. Das Dissertationsprojekt setzt sich die Klärung genau dieser Frage zum Ziel und basiert hierfür auf zwei methodenabhängigen Säulen: So soll zum einen der Transfer probater Theorien der Medizinethik auf die Literatur diskutiert werden, zum anderen ist anhand bestehender Literaturtheorien zu prüfen, wie die Literaturwissenschaft selbst für ethische Untersuchungen fruchtbar gemacht werden kann – sowohl für das eigene Fach als auch für fremde Disziplinen. Unter Berücksichtigung fiktionaler und faktualer Pathographiebeispiele der Gegenwart steht dabei die Analyse zweier zentraler Problemfelder im Vordergrund: 1.) In einem ersten Schritt ist am Beispiel des Arztbriefes das medizinische Begriffsbewusstsein für Gattung, Text, Autor- und Leserschaft zu schärfen, um einer im Gesundheitswesen zu beobachtenden Missachtung der Auswirkungen des Autor-Leser-Verhältnisses auf die Arzt-Patient-Beziehung entgegenzuwirken. Als vielversprechend erscheint hier die Applizierung von Transtextualitäts- und Narrativitätstheorien. Im Zuge dessen soll zudem eine bislang in der Forschung unterlassene Gattungsbestimmung des Arztbriefes versucht werden. 2.) Unter Zuhilfenahme „literarischer“ Gattungen (Romane, (Auto-)Biographien) ist in einem zweiten Schritt die Frage nach der Gerechtigkeit des Ausdrucksraums zu stellen. So scheint Schriftlichkeit in der medizinischen Kommunikation primär dem Arzt vorbehalten, während Patienten und Angehörige ihre Situation überwiegend mündlich darstellen. Schriftlichkeit bietet dem medizinischen Laien jedoch eine besonders geeignete Möglichkeit, oftmals nur schwer formulierbare Erfahrungen auf wörtlicher und allegorischer Ebene zum Ausdruck zu bringen und die neue, durch Krankheit bestimmte Rolle zu reflektieren. Im Promotionsvorhaben steht daher auch der Frage nach der gerechten Zuweisung und Zugänglichkeit von (schriftlichen/mündlichen, faktualen/fiktionalen) Ausdrucksräumen im Fokus. In diesem Kontext lohnt der Transfer der in der Medizin derzeit intensiv diskutierten Allokationsethik, die Theorien zur Verteilungsgerechtigkeit bereithält. Zusammengefasst soll die Arbeit damit nicht nur die bisher eher stiefmütterlich behandelte Pathographieforschung zu neuen Erkenntnissen führen, sondern versteht sich angesichts der erwarteten Ergebnisse von literatur-, fremd- und allgemein ethischer und damit nicht zuletzt gesellschaftlicher Relevanz in erster Linie als Beitrag zu einer theoretisch fundierten Literaturethik.
Die Dissertation wurde 2019 im
Universitätsverlag Winter veröffentlicht.
Fach: Nordische Philologie
BetreuerInnen: Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf (Germanistik, WWU Münster), Prof. Dr. Sophie Wennerscheid
(Skandinavistik, Universität Gent, Belgien), Florian Steger (Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin,
Universität Ulm)