Doppelter Beta-Zerfall
Neutrino-Oszillationsexperimente mit solaren und atmosphärischen Neutrinos ergeben Hinweise, dass Neutrinos nicht, wie im Standardmodell der Teilchenphysik beschrieben, masselos sind, sondern eine endliche Ruhemasse besitzen. Oszillationsexperimente können jedoch lediglich eine Massendifferenz zwischen Neutrinos verschiedener “Sorten” messen. Diese liegen in Größenordnungen von 50 meV. Um einen Absolutwert der Neutrinomasse zu erhalten, bieten sich Experimente zum doppelten Betazerfall an.
Der doppelte Betazerfall ist ein seltener radioaktiver Zerfallsmodus, bei dem sich ein Isotop bei Erhaltung der Nukleonenzahl in ein neues Isotop mit um zwei Einheiten veränderter Ladung verwandelt.
Der Zerfall kann vornehmlich in zwei Varianten vorkommen. Die eine Variante emittiert beim Zerfall zwei Elektronen und zwei Neutrinos. Sie ist mit dem Standardmodell verträglich und wurde bereits mit guter Präzision vermessen. Typische Halbwertzeiten betragen etwa 1019 Jahre (zum Vergleich: unser Universum ist ca. 1010 Jahre alt). Interessanter ist die zweite Variante, bei der keine Neutrinos emittiert werden. Hier ist ein wesentlicher Satz des Standardmodells, die Erhaltung der Leptonenzahl, verletzt: Elektronen dürfen nämlich nicht einfach “aus dem Nichts” entstehen, sondern für jedes erzeugte Elektron (Leptonenzahl 1) muss ein Antineutrino (Leptonenzahl -1) die Bilanz ausgleichen.
Die neutrinolose Variante kann man durch zwei sequentielle einfache Betazerfälle beschreiben. Der erste sendet ein Neutrino aus, das vom zweiten Zerfall gleich wieder eingefangen wird. Dies geht aber nur, wenn, wie es in der Theorie der schwachen Wechselwirkung durchaus möglich ist, Neutrino und Antineutrino ein und dasselbe Teilchen sind. Hierzu muss aber das Neutrino eine Masse haben! Man kann nun zeigen, dass die Halbwertzeit des Doppelbetazerfalles mit der Neutrinomasse verknüpft ist. Über eine Messung der Halbwertzeit kommt man also an die Neutrinomasse. Experimente zur Bestimmung dieser Halbwertzeit sind weltweit im Gange. Man erwartet im Falle einer Entdeckung dieses Zerfallsmodus Halbwertzeiten um 1028 Jahre, was eine große experimentelle Herausforderung darstellt.
Hier muss aber noch ein weiterer Faktor bedacht werden: die Kernstruktur der betreffenden Isotope. In aufwändigen Rechnungen werden diese sogenannten Kernmatrixelemente ermittelt, die schließlich Halbwertzeit und Neutrinomasse verbinden. Einige wichtige Matrixelemente sind auch durch Experimente zugänglich. Eine Eichung der Modellrechnungen auf Grundlage solcher Messungen ist unbedingt erforderlich, um (im Falle einer Entdeckung des neutrinolosen Zerfalls) eine genaue Angabe der Neutrinomasse erhalten zu können. Derartige Messungen werden, wie Experimente zur Supernova-Physik, von unserer Gruppe am Beschleunigerinstitut KVI in Groningen durchgeführt.