Ultrarelativistische Schwerionen Kollisionen
Protonen und Neutronen, die Bausteine des Atomkerns, bestehen aus Quarks, welche von Gluonen, den Austauschteilchen der starken Wechselwirkung, zusammengehalten werden. Die Tatsache, dass Quarks nie als freie Teilchen, sondern ausschließlich in gebundenen Zuständen wie Protonen, Neutronen oder anderen Hadronen beobachtet werden können, wird auch "Confinement" genannt. Die genauen physikalischen Ursachen, welche zum Confinement führen, sind beim heutigen Stand der Wissenschaft nicht bekannt. Dem Urknallmodell zufolge befand sich das Universum bis etwa 10 Mikrosekunden nach seiner Entstehung jedoch in einem Zustand, in dem das Confinement aufgehoben war und sich Quarks und Gluonen als (quasi-)freie Teilchen in einem Plasma bewegen konnten. Aus diesem sogenannten Quark-Gluon-Plasma gingen dann in einem Phasenübergang, bei dem sich die Quarks und Gluonen zu gebundenen Zuständen zusammenfanden, Protonen und Neutronen als die Grundbausteine der uns bekannten Materie hervor. Mithilfe der Quantenchromodynamik, der Theorie der starken Wechselwirkung, kann die Temperatur und Dichte, bei der ein solcher Phasenübergang auftritt, recht präzise berechnet werden.
Experimentell wird dies an Beschleunigeranlagen wie unter anderem dem LHC am CERN untersucht, wo das Quark-Gluon-Plasma in Kollisionen von hochrelativistischen Schwerionen für sehr kurze Zeitspannen erzeugt werden kann.
Unsere Arbeitsgruppe setzt die Forschung der Gruppe von Prof. Dr. R. Santo fort, welche an den ersten Experimenten dieser Art am SPS-Beschleuniger am CERN teilnahm. Die Messung direkter Photonen in diesen Experimenten lieferte wichtige Erkenntnisse über heiße und dichte Quark-Gluonmaterie.
Seit dem Jahr 2000 erzeugt der Relativistic Heavy-Ion Collider (RHIC) am Brookhaven National Laboratory, USA, Kollisionen schwerer Ionen, die um eine Größenordnung energiereicher sind als die Kollisionen am CERN SPS. Dort nahm unsere Arbeitsgruppe zunächst unter der Leitung von Prof. Dr. Santo und später von Prof. Dr. J.P. Wessels am PHENIX-Experiment teil. Unsere Beiträge waren dabei Entwicklung, Bau und Betrieb eines Bleiglas-Kalorimeters aus mehr als 10000 einzelnen Detektormodulen. Eines der wichtigsten Resultate von PHENIX war der Nachweis von "jet quenching" bei hohen Transversalimpulsen, einem Fund von immenser Bedeutung für unser Verständnis des Quark-Gluon-Plasmas.
Ein weiterer riesiger Anstieg in Kollisionsenergien wurde am LHC am CERN erreicht. Der Beschleuniger startete seinen Betrieb in 2009 und produzierte erste Kollisionen von Bleikernen in 2010. Unsere Arbeitsgruppe ist seit vielen Jahren Teil des Schwerionenexperiments ALICE am LHC. Einer der zentralen Detektoren in ALICE ist der große Übergangsstrahlungsdetektor (Transition Radiation Detector - TRD), der von uns in enger Zusammenarbeit mit anderen europäischen Instituten und Universitäten entwickelt und gebaut wurde und nun betrieben wird.
Übergangsstrahlung ist elektromagnetische Strahlung im Energiebereich der Röntgenstrahlung, welche beim Durchgang hochrelativistischer geladener Teilchen durch Lagen verschiedener Materialien mit unterschiedlichen Brechungsindizes erzeugt wird. Übergangsstrahlungsdetektoren sind ein einzigartiges Werkzeug zur Unterscheidung hochenergetischer Elektronen bzw. Positronen von geladenen Pionen. Der ALICE-TRD liefert außerdem einen Second-Level-Trigger für Elektronen, schwere Kernfragmente und Jets.
Bei der Entwicklung des Detektors war unsere Gruppe besonders beim Design, Test und Bau der Radiatoren involviert. Außerdem wurden 17 der 18 TRD-Supermodule, welche je aus 30 einzelnen Detektormodulen bestehen, im IKP zusammengesetzt und getestet. Auch an der Entwicklung des Software-Frameworks für Simulation und Datenanalyse bezüglich des ALICE-Experiments ist unsere Gruppe maßgeblich beteiligt. Die von uns dabei untersuchten physikalischen Fragestellungen beziehen sich auf verschiedene Aspekte von Jetproduktion, sowie Photonen, neutralen Mesonen und Quarkonia. Dabei vergleichen wir Proton-Proton, Proton-Blei und Blei-Blei-Kollisionen in ALICE und betreiben außerdem phänomenologische Analysen, in Zusammenarbeit mit Kollegen aus anderen AGs der WWU sowie anderen Universitäten (siehe z.B. diese Pressemeldung).
Neben ALICE ist unsere Arbeitsgruppe außerdem am Compressed Baryonic Matter (CBM) Experiment beteiligt, das ab 2028 am neuen Beschleuniger-Komplex FAIR anlaufen wird, welcher momentan an der GSI in Darmstadt errichtet wird. Hier soll in Kollisionen mit geringeren Energien als am LHC baryonische Materie mit sehr hoher Dichte, vergleichbar mit der innerhalb von Neutronensternen oder Neutronensternkollisionen, erzeugt werden. Weiterhin soll CBM den eindeutigen Beweis dafür liefern, ob in diesem Energie- und Dichteregime das Confinement aufgehoben ist oder nicht, wofür eine große Reihe an teils sehr seltenen Observablen zu messen sind, wie unter anderem Hyperkerne und Dileptonen.
Um diese Teilchen in statistisch relevanten Mengen zu erzeugen, muss CBM unter sehr hohen Kollisionsraten betrieben werden, was sowohl für die Detektoren und ihre Auslese, als auch für Datentransport, -verarbeitung und -analyse eine enorme Herausforderung darstellt. Die Auslese der Detektoren bei CBM wird dabei nicht, wie meist üblich in Experimenten dieser Art, von einem externen Trigger ausgelöst. Vielmehr entscheidet jeder Detektor anhand bestimmter Bedingungen von sich aus, wann ein Ereignis stattgefunden hat und Daten aufgezeichnet werden sollen.
Wie zuvor für ALICE entwickelt unsere Arbeitsgruppe auch für CBM einen Übergangsstrahlungsdetektor. Dieser beruht zwar auf dem selben Funktionsprinzip wie der ALICE-TRD, wurde jedoch von Grund auf neu designt, um den Anforderungen des CBM-Experiments zu entsprechen, welche sich insbesondere bezüglich der enorm hohen Teilchenraten von denen des ALICE-Experiments unterscheiden. Neben dem bisherigen Bau und Test von Detektorprototypen beteiligt sich unsere Arbeitsgruppe auch bei der 2023 begonnenen Massenfertigung der Detekormodule für den finalen Aufbau des CBM-Experiments und ist verantwortlich für ihre spätere Installation am FAIR.
Abgesehen von ihrer Nutzung in Experimenten der Kern- und Teilchenphysik haben die hier entwickelten Detektoren auch ein enormes Potenzial für medizinische Anwendungen wie z.B. bildgebende Verfahren mit Röntgenstrahlen.