Hintergrundinformationen

Das medizinische Problem

Frühgeburt

Als Frühgeburt bezeichnet man eine Geburt nach weniger als 37 volendeten Schwangerschaftswochen. Dies betrifft in der Bundesrepublik Deutschland 7–8% aller Schwangerschaften, es kommen jährlich etwa 52.000 Frühgeborene zur Welt.

Very low birthweight (VLBW) Frühgeburt

Frühgeborene, die vor der vollendeten 32 Schwangerschaftswoche, in der Regel mit einem Geburtsgewicht unter 1.500 g, geboren werden, bezeichnet man als very low birthweight Frühgeborene. In der Bundesrepublik Deutschland betrifft dies mit 1,2% aller Geburten jährlich etwa 8200 Geburten. Sie stellen ein besonderes Risikokollektiv dar.

Extremely low birthweight (ELBW) Frühgeburt

Von ELBW-Frühgeborenen wird vor Vollendung der 28. Schwangerschaftswoche, bei einem Geburtsgewicht unter 1000 g gesprochen. Die Grenze der Lebensfähigkeit fällt – wenn keine zusätzlichen Erkrankungen des Kindes vorliegen – meist in diese Gruppe der unreifsten Frühgeborenen.

Chancen und Risiken

Mit zunehmender Unreife steigen Erkrankungshäufigkeit und Sterblichkeit. Heute gilt ein Gestationsalter von 22 Wochen, 0 Tagen als biologische Grenze der Lebensfähigkeit. Kinder, die nahe dieser Grenze durch den Einsatz neonatologischer Intensivmedizin überleben, haben eine geringe Chance auf gesundes Überleben und ein hohes Risiko, zu versterben oder bleibende, teils schwere Schäden zu erleiden. 2006 verstarben 684 Säuglinge an Folgen von Frühgeburtlichkeit. (International Classification of Diseases, Version 10, P07: ”Störungen im Zusammenhang mit kurzer Schwangerschaftsdauer und niedrigem Geburtsgewicht, andernorts nicht klassifiziert.”). Für eine Übersicht über die Behandlungsergebnisse bei sehr unreifen Frühgeborenen vgl. [2– 8]. 

Das moralische Problem

Werte im Widerstreit

Das ärztliche Standesethos verpflichtet Perinatalmediziner und Neonatologen, zwei Werte zu achten, die im Grenzbereich der Lebensfähigkeit unvermeidlich in Widerstreit geraten:

  • Sie sind dem Lebenserhalt des Frühgeborenen verpflichtet. 
  • Sie sollen dem Kind kein vermeidbares Leid zufügen.

Eine einfach erscheinende Lösung

Die Grenze der Lebensfähigkeit trennt Frühgeborene, deren Leben mit den Mitteln neonatologischer Intensivmedizin erhalten werden kann, von solchen, bei denen ein solcher Versuch aussichtslos ist. Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass die Belastungen der intensivmedizinischen Therapie gerechtfertigt sind, wenn das Kind überleben wird – und dass sie es nicht sind, wenn der Tod des Kindes dadurch nicht verhindert werden kann.

Warum die Lösung nicht so einfach ist

Die Anwendung dieser Regel führt im Einzelfall zu Problemen, die ihre Ursache in der Natur medizinischer Prognosen und in unausgesprochenen Vorannahmen über unser Verständnis von Leben und Sterben haben:

  • Medizinische Prognosen sind probabilistischer Natur. Sie treffen Aussagen über die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Behandlungsergebnis eintritt. Es stellt sich daher die Frage, wie sicher das Versterben des Kindes sein muss, um den Schluss zu rechtfertigen, dass die Belastungen einer Intensivtherapie nicht gerechtfertigt sind.
  • Das auf den ersten Blick eindeutige Kriterium des Überlebens bedarf einer Klärung: Ist alleine biologisches Leben gemeint, oder sollen zusätzliche Qualitäten erfüllt sein – etwa potentielles Bewußtsein oder keine starken Schmerzen? Wie lange muss dieses Leben andauern, damit wir es als zu verlängerndes Leben und nicht als zu begleitenden Sterbeprozess ansehen?

Autonome Entscheidungen

In einem säkularen, pluralistischen Gemeinwesen hat es sich bewährt, kontroverse normative Fragen der autonomen Entscheidung betroffener Individuen zu überantworten. So ist es in der Bundesrepublik unstrittig, dass ein aufgeklärer, erwachsener Patient für sich selbst entscheidet, ob eine medizinische Therapie durchgeführt wird, oder nicht – gleich, ob dies zu einer Verlängerung oder Verkürzung seines Lebens führt. Wenn ein erwachsener Patient durch schwere Krankheit nicht in der Lage ist, für sich zu entscheiden, haben wir in seiner Lebensgeschichte Hinweise auf seine Präferenzen, an die wir uns gebunden fühlen.
Der Vorrang autonomer Entscheidungen Betroffener bietet uns jedoch keinen Lösungsweg für Therapieentscheidungen bei Frühgeborenen. Frühgeborene können nicht autonom entscheiden, und wir können aus ihrer Lebensgeschichte nicht auf ihre Präferenzen schließen.

Entscheidungen für Frühgeborene - der "best interest standard"

Es ist daher üblich, sich auf das zu beziehen, was ein vernünftiger, aufgeklärter Mensch unter den gegebenen Umständen als beste Wahl treffen würde – den sogenannten best interest standard.
Nach dem vorher Gesagten kann es nicht verwundern, dass die Bestimmung dieses besten Interesses ihrerseits Gegenstand von Kontroversen ist: Wer soll nach welchen Regeln entscheiden, was das Beste für ein lebensbedrohlich erkranktes Frühgeborenes mit einer sehr ernsten Gesamtprognose ist?

Empfehlungen zur Entscheidungsfindung

Die Notwendigkeit, in Grenzfällen eine Entscheidung zu treffen und die Unsicherheit darüber, wie gute, angemessene Entscheidungen zu treffen sind, führten zu Empfehlungen einschlägiger Fachgesellschaften, von denen einige hier genannt werden:

  • Deutschland
    Deutsche Gesellschaft Kinderheilkunde, Akademie für Ethik in der Medizin und Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht: ”Einbecker Empfehlungen zu den Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht bei schwerstgeschädigten Neugeborenen.”, 1986, revidierte Fassung 1992, Ethik Med 1992; 4: 103-104.
  • Deutschland
    Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (DGKJ), Deutsche Gesellschaft für Perinatale Medizin (DGPM) und Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin (GNPI), beraten durch eine Strafrechtlerin und einen Moraltheologen: ”Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit.”, AWMF-Leitlinien-Register Nr. 024/019, 1999, aktualisiert 2007.
  • Deutschland
    Bundesärztekammer: ”Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung”, Deutsches Ärzteblatt, 2004; 101(19): A1298-A1299.
  • Deutschland
    Kommission für ethische Fragen der Deutschen Akademie für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (DAKJ): Begrenzung lebenserhaltender Therapie im Kindes- und Jugendalter. 2007.
  • Europa
    Ethics working group of the Confederation of the European Specialists of Paediatrics (CESP): ”Decision making in extreme situations involving children: withholding or withdrawal of life supporting treatment in paediatric care. Statement of the ethics working group of the Confederation of the European Specialists of Paediatrics (CESP)”, European Journal of Pediatrcis, 2001; 160: 214-216.
  • Europa
    Ethics working group of the Confederation of the European Specialists of Paediatrics (CESP): ”Ethical dilemmas in neonatology: recommendations of the Ethics Working Group of the CESP.” Eur J Pediatr, 2001; 160: 364-368.
  • Österreich
    Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde: Erstversorgung von Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit. 2005.
  • Schweiz
    Arbeitsgruppe der Schweizerischen Gesellschaft für Neonatologie: Empfehlungen zur Betreuung von Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit. (Gestationsalter 22 – 26 SSW). Schweizerische Ärztezeitung, 2002; 83: 1589-1595.
  • Großbritannien
    Gee H, Dunn P.: Fetuses and newborn infants at the threshold of viability. A framework for practice. BAPM Memorandum; July 2000.
  • USA
    American Academy of Pediatrics, Committee on Fetus and Newborn: Noninitiation or withdrawal of intensive care for high-risk newborns. Pediatrics, 2007; 119: 401-403.
  • Kanada
    Joint Statement of the Fetus and Newborn Committee, Canadian Paediatric Society (CPS) and Maternal-Fetal Medicine Committee, Society of Obstetricians and Gynaecologists of Canada: Management of the woman with threatened birth of an infant of extremely low gestational age. Canadian Medical Association Journal 1994; 151(5): 547-551, 553, Reference No. FN94-01 (Revision in progress May 2007).
  • Kanada
    Canadian Pediatric Society (CPS): Treatment decisions regarding infants, children and adolescents. POSITION STATEMENT (B 2004-01), Paediatr Child Health 2004; 9(2 Feb): 99–103.
  • Australien, New SouthWales
    Australian Capital Territory Lui, K.; Bajuk, B.; Foster, K.; Gaston, A.; Kent, A.; Sinn, J.; Spence, K.; Fischer, W. & Henderson-Smart, D.: Perinatal care at the borderlines of viability: a consensus statement based on a NSW and ACT consensus workshop. Med J Aust, 2006; 185: 495-500 (NSW = New South Wales, ACT = Australian Capital Territory.

Literatur

  1. STATISTISCHES BUNDESAMT: Statistisches Jahrbuch 2007 für die Bundesrepublik Deutschland. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden, 2007 http://www.destatis.de

  2. EICHENWALD, Eric C. ; STARK, Ann R.: Management and Outcomes of Very Low Birth Weight. In: New England Journal of Medicine 358 (2008), S. 1700–11

  3. TYSON, Jon E. ; PARIKH, Nehal A. ; LANGER, John ; GREEN, Charles ; HIGGINS, Rosemary D. ; FOR THE NATIONAL INSTITUTE OF CHILD HEALTH AND HUMAN DEVELOPMENT NEONATAL RESEARCH NETWORK: Intensive Care for Extreme Prematurity – Moving Beyond Gestational Age. In: New England Journal of Medicine 358 (2008), S. 1672–81

  4. LUCEY, Jerold F. ; ROWAN, Cherise A. ; SHIONO, Patricia ; WILKINSON, Andrew R. ; KILPATRICK, Sarah ; PAYNE, Nathaniel R. ; HORBAR, Jeffrey ; CARPENTER, Joseph ; ROGOWSKI, Jeannette ; SOLL, Roger F.: Fetal infants: the fate of 4172 infants with birth weights of 401 to 500 grams–the Vermont Oxford Network experience (1996-2000). In: Pediatrics 113 (2004), Jun, Nr. 6, S. 1559–1566

  5.  MARKESTAD, Trond ; KAARESEN, Per I. ; RØNNESTAD, Arild ; REIGSTAD, Hallvard ; LOSSIUS, Kristin ; MEDBØ, Sverre ; ZANUSSI, Gro ; ENGELUND, Inger E. ; SKJAERVEN, Rolv ; IRGENS, Lorentz M. ; NORWEGIAN EXTREME PREMATURITY STUDY GROUP: Early death, morbidity, and need of treatment among extremely premature infants. In: Pediatrics 115 (2005), May, Nr. 5, S. 1289–1298

  6.  LANDMANN, Eva ; MISSELWITZ, Bjorn ; STEISS, Jens O. ; GORTNER, Ludwig: Mortality and morbidity of neonates born at -26 weeks of gestation (1998–2003). A population-based study. In: Journal of Perinatal Medicine 36 (2008), S. 168–174

  7. HILLE, Elysée T. M. ; WEISGLAS-KUPERUS, Nynke ; GOUDOEVER, J. B. ; JACOBUSSE, Gert W. ; ENS-DOKKUM, Martina H. ; GROOT, Laila de ; WIT, Jan M. ; GEVEN, Wil B. ; KOK, Joke H. ; KLEINE, Martin J. K. ; KOLLÉE, Louis A. A. ; MULDER, A. L. M. ; STRAATEN, H. L. M. ; VRIES, Linda S. ; WEISSENBRUCH, Mirjam M. ; VERLOOVEVANHORICK, S. P. ; DUTCH COLLABORATIVE POPS 19 STUDY GROUP for t.: Functional Outcomes and Participation in Young Adulthood for Very Preterm and Very Low Birth Weight Infants: The Dutch Project on Preterm and Small for Gestational Age Infants at 19 Years of Age. In: Pediatrics 120 (2007), S. e587–e595

  8. SAIGAL, Saroj ; STOSKOPF, Barbara ; BOYLE, Michael ; PANETH, Nigel ; PINELLI, Janet ; STREINER, David ; GODDEERIS, John: Comparison of current health, functional limitations, and health care use of young adults who were born with extremely low birth weight and normal birth weight. In: Pediatrics 119 (2007), Mar, Nr. 3, S. e562–e573 6