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II 1
Der 1. Band aus der II. Reihe des
Philosophischen Briefwechsels der Leibniz-Akademieausgabe umfaßt
die philosophische Korrespondenz des 17- bis 39jährigen Leibniz
der Jahre 1663 bis 1685. Es sind in dem Band insgesamt 283 Briefe von
und an Leibniz aus Briefwechseln mit 71 Korrespondenten erfaßt.
Er zeigt den jungen, hochbegabten Leibniz, voller Ideen und Projekte,
der versucht, Kontakte zu den großen Persönlichkeiten seiner
Zeit aufzunehmen. Nach einem Studium in Philosophie und Jurisprudenz
vor allem in Leipzig (auch ein Semester in Jena) mit dem Abschluß
eines Magister in Philosophie und eines Baccalarius in Jurisprudenz
erwirbt er (1666/67) in Altdorf den Grad eines Doktors beider Rechte.
Auf einer Reise über Mainz, die ihn ursprünglich nach Holland
führen sollte, bekommt er Kontakt zum Mainzer Hof — er widmet dem
Kurfürsten von Mainz seine Schrift “Nova methodus discendae
docendaeque jurisprudentiae” (Eine neue Methode, die Jurisprudenz zu
lernen und zu lehren) —, vor allem zu dem Minister in kurmainzischen
Diensten, Freiherrn Johann Christian von Boineburg. Wohlwollend von ihm
gefördert, gewinnt er Kontakt zu einflußreichen
Persönlichkeiten seiner Zeit., z.B. zu Mauritius, Prof. der
Jurisprudenz in Kiel, Assessor am Kammergericht in Speyer, später
am Reichskammergericht in Wetzlar, zu dem kurmainzischen Hofrat Hermann
Andreas Lasser, mit dem er im Auftrag des Kurfürsten an einer
Reform des Römischen Rechts arbeitet (Corpus juris reconcinnatum),
zu Hermann Conring, damals Staatsrat des Königs von Dänemark,
mit dem er grundlegende Fragen des Rechts und der Rechtsordnung
erörtert. Er nimmt Kontakt auf zu Arnauld, dem berühmten
Jansenisten aus dem Kloster Port-Royal bei Paris, außerdem zu
bekannten Jesuiten in Rom wie dem universell gelehrten Athanasius
Kircher, zu Francesco de Lana und Honoré Fabri, dem
päpstlichen Beichtvater, sowie zu dem in Prag lehrenden
Mathematiker Kochanski. Außerdem schreibt er an den Leiter der
Wiener Hofbibliothek in Wien, Peter Lambeck. Schließlich
korrespondiert er mit dem berühmten Staatsmann und Kieler
Professor für Jurisprudenz Wedderkopf sowie schon früh mit
seinem späteren Landesherrn, Herzog Johann Friedrich von Hannover,
über Fragen des Fatum und der Theodizee, die ihn sein Leben lang
begleiten. Angeregt durch Mauritius entwirft und veröffentlicht
Leibniz zwei erste grundlegende physikalische Schriften, die “Theoria
motus abstracti” (Theorie der abstrakten Bewegung), die er der
Académie Royale des sciences in Paris, und die “Hypothesis
physica nova” (Neue physikalische Hypothese), die er der Royal Society
in London widmet. Er nimmt Kontakt auf zu Oldenburg, dem Sekretär
der Royal Society, zu Chapelain (Berater von Ludwig XIII. und
Richelieu), zu Carcavy, dem Bibliothekar der Königlichen
Bibliothek in Paris unter Colbert, zu den großen Philosophen des
17. Jahrhunderts, Hobbes und Spinoza, zu Velthuysen, dem berühmten
Mediziner und Philosophen in Holland (der für das Kopernikanische
System eintritt). Er führt einen Briefwechsel mit Otto von
Guericke, dem Erfinder der Luftpumpe, der bekannt ist durch seine
Experimente zum Vakuum. Die in der Korrespondenz dieses Zeitraums
behandelten Themen sind vor allem: die aus seiner juristischen
Tätigkeit (bei Lasser und als Revisionrat am
Oberappellationsgericht in Mainz, zu dem ihn der Kurfürst Mitte
1670 ernennt) hervorgehenden Fragen einer neuen systematischen
Rechtsordnung und deduktiven Rechtsbegründung; die in seinen
frühen physikalischen Schriften sich zeigende Suche sozusagen nach
einer “Weltformel”, d.h. der Rückführung aller
Naturerscheinungen auf die drei Grundphänomene: Gravitation,
Elastizität und Magnetismus (“Gewicht, Feder und Compaß”),
und nach der Erklärung der Bewegungsgesetze in der Natur; die
Frage der Entwicklung einer allgemeinen wissenschaftstheoretisch
adäquaten Methode und Sprache zur wissenschaftlichen
Problemlösung (das von Leibniz “scientia generalis” und
“characteristica universalis” genannte Projekt, das sich schon in
seiner mit 20 Jahren veröffentlichten Schrift über die
Kombinationskunst - “De arte combinatoria”- ankündigt);
schließlich die theologischen Probleme von Fatum,
Schöpfungsordnung und Rechtfertigung des Bösen in der Welt
(dem Theodizeeproblem). Im Auftrag von Boineburg und Kurmainz bricht er
Anfang 1672 in politischer Mission nach Paris auf (um dem
französischen König Ludwig XIV. den sogenannten
Ägyptischen Plan nahezubringen, d.h. seine Angriffspläne auf
Holland und das Deutsche Reich in den — wie wir heute sagen würden
— “Nahen Osten” umzulenken). Obwohl aus dieser Mission letzten Endes
nichts wird, bleibt er vier Jahre in Paris und nutzt diese Zeit, um
persönliche Bekanntschaften zu knüpfen zu dem genannten
Arnauld, zu dem dort tätigen, großen holländischen
Physiker und Mathematiker Christiaan Huygens, zum Redakteur der
wichtigen wissenschaftlichen Zeitschrift “Journal des Savants”,
zugleich königlichen Bibliothekar und Mitglied der Académie
des sciences , Jean Gallois, zu dem Erzieher des Dauphin und Verfasser
der Klassikerausgaben “ad usum Delphini”, Daniel Huet, dem Physiker
Mariotte, dem Kanonikus von Dijon, Simon Foucher, mit dem er
später fundamentale philosophische Fragen erörtert, zu dem
französischen Occasionalisten Malebranche, schließlich zu
dem Professor am Jesuitenkolleg in Paris, Jean Berthet. Die Pariser
Zeit nutzt er vor allem, um sich - wie er sich später in einem
Brief an die Pfalzgräfin Elisabeth ausdrückt - mit einer fast
unmäßigen Leidenschaft der Mathematik zu widmen und wichtige
Erfindungen auf diesem Gebiet (wie z.B. die des
Differentialkalküls) zu machen. In diesem Zusammenhang nimmt er
Kontakt auf zu dem ebenfalls nach Paris gekommenen deutschen
Mathematiker und Cartesianer Ehrenfried Walther von Tschirnhaus.
Außerdem lernt Leibniz dort intensiv die Schriften und
Nachlässe der bedeutenden Philosophen Descartes und Pascal kennen.
Während sich die kurmainzische Gesandtschaft nach dem Fehlschlag
in Paris in der gleichen politischen Mission nach London begibt, nutzt
Leibniz auch hier die Gelegenheit, um wissenschaftliche Kontakte zu
knüpfen. Er stellt der Royal Society seine die vier
Grundrechenarten mechanisch beherrschende Rechenmaschine vor, die er
zuvor in Paris hat bauen lassen, und wird Mitglied der Royal Society.
Er lernt dort neben dem ihm schon brieflich vertrauten Heinrich
Oldenburg u.a. den Chemiker Robert Boyle, den Mathematiker John Pell
und Robert Hooke, den auf Oldenburg folgenden Sekretär der
Gesellschaft, kennen, mit dem er später Fragen einer
Universalsprache erörtert. Als sich in Paris die Aussicht auf
einen Platz in der Akademie mit königlichem Salär (nach dem
Tod des Mathematikers Roberval 1675) zerschlägt, tritt er in die
Dienste des Herzog Johann Friedrich von Braunschweig-Lüneburg, der
ihn schon längere Zeit an seinen Hof zu ziehen versucht. Bevor er
in Hannover seinen Dienst als Hofrat antritt, reist er nochmals nach
London und dann nach Hannover über Holland, wo er u.a. die
holländischen Naturwissenschaftler Swammerdam in Amsterdam und
Leeuwenhoek in Delft, außerdem Spinoza in Den Haag aufsucht und
mit diesem über einen von ihm entwickelten Gottesbeweis
diskutiert. Viele der neu gewonnenen Bekanntschaften werden von Leibniz
von Hannover aus, wo er im Dezember 1676 eintrifft, brieflich weiter
gepflegt. Alte Korrespondenzen werden wiederangeknüpft, neue aus
seinem Umfeld treten hinzu. So setzt er die schon mit Kircher begonnene
Diskussion über Fragen einer Universalwissensschaft und
Universalsprache fort: mit Berthet und Gallois in Paris bzw. mit Hooke
und dem deutschen Mitglied der Royal Society, Detlev Clüver, in
London. Mit Fabri in Rom und mit dem holländischen
Iatromechanisten Theodor Craanen werden grundlegende Fragen der
Naturphilosophie diskutiert. Politische Fragen und Rechtsfragen, die er
auch in Paris nicht aus den Augen verloren hat - wie sein Brief aus
Paris an den Völkerrechtler Samuel Pufendorf bezeugt - werden
erneut mit Conring und dann vorwiegend mit Placcius, dem Hamburger
Juristen, diskutiert. Bei den Jungius-Schülern Heinrich Siver und
Johann Vagetius erkundigt er sich nach dem naturwissenschaftlich und
wissenschaftstheoretisch wichtigen Nachlaß des Hamburger
Philosophen Joachim Jungius. Mit dem Rektor und Mathematiker Henning
Huthmann und dem Weigel-Vertrauten Gottfried Klinger werden, wie schon
zuvor persönlich mit Spinoza in Den Haag, Gottesbeweise
erörtert. Die in Paris gewonnenen genaueren Descartes-Kenntnisse
führen nun zu einer grundlegenden Auseinandersetzung mit
Descartes, dessen rein durch die Ausdehnung bestimmten Materiebegriff
Leibniz schon früh einer Kritik unterzogen hat. Eine
zusammenfassende, kritische Stellungnahme zu Descartes vermittelt sein
Brief von November 1678 an die Pfalzgräfin Elisabeth, eine
Schülerin noch von Descartes selber. Mit Arnold Eckhard, dem
Mathematik-Professor und Cartesianer aus Rinteln diskutiert er vor
allem über den Cartesischen Gottesbeweis, mit dem
kursächsischen Agenten Christian Philipp und mit Fabri über
den voluntaristischen Gottesbegriff, mit Theodor Craanen über die
Stoßgesetze Descartes’. Mit dem kursächsischen Geheimen Rat
Veith Ludwig von Seckendorff sowie mit dem Landgrafen Ernst von
Hessen-Rheinfels werden theologische Fragen, vor allem die vom ersteren
Leibniz nahegelegt Konversion zum Katholizismus erörtert.Trotz
aller Reunionsversuche der christlichen Kirchen, um die sich Leibniz
zeit seines Lebens bemühte, pocht er in Glaubensfragen hier dem
Landgrafen Ernst gegenüber auf das Recht der persönlichen
Gewissensentscheidung jedes einzelnen. Aus der Kritik am Cartesianismus
und aus seinen grundsätzlichen Überlegungen zu einer
Universalsprache und Enzyklopädie der Wissenschaften entwickeln
sich in dieser Zeit die Ansätze zu einem neuen philosophischen
System, bei dem der Substanzbegriff und eine logische Analyse der
Begriffe im Vordergrund steht, so in seinen Briefen an Vagetius in
Hamburg und an den Superintendenten in Clausthal, Caspar Calvör,
zu dem er während seiner Harzaufenthalte Kontakt hat. Im Harz, wo
sich Leibniz - neben seiner Tätigkeit am Hof - im ersten Jahrzehnt
mit der Entwicklung von Windtechniken zur Entwässerung der Harzer
Gruben beschäftigt, findet Leibniz gegen Ende des Zeitraums
unseres Briefbandes (nämlich im Winter 1685/86) auch die
Muße, einen ersten Entwurf seiner metaphysischen Grundgedanken —
die sog. “Metaphysische Abhandlung” (Discours de métaphysique) —
anzufertigen, über die dann in der Folge einer der
interessantesten Briefwechsel zwischen Leibniz und Arnauld entsteht.
Dieser Briefwechsel wird im zweiten Band der philosophischen Briefreihe
erscheinen, der sich derzeit in der redaktionellen
Schlußbearbeitung befindet und noch in diesem Jahr abgeschlossen
werden soll. Grundlagenanalyse in der Jurisprudenz und
Naturphilosophie, Grundlegung der Wissenschaften durch eine
allgemeinverbindliche Sprache und Methode, Neubestimmung einer sich an
Descartes entzündenden und durch eines bessere Methodologie
begründete Metaphysik, die sich von der christlichen Vorstellung
des auf das Gute ausgerichteten Gottes leiten läßt - das
sind wesentliche Momente des Leibnizschen Denkens. Diese
Grundlagenforschung in Wissenschaft und Philosophie wird aber nicht um
ihrer selbst willen betrieben, sondern ist orientiert an der
praktischen Nützlichkeit und politischen Wirksamkeit. Leibniz’
Denken zeichnet ein ausgeprägter Sinn für das Gemeinwohl aus.
Sein Interesse und seine eigene Beteiligung an wissenschaftlichen
Erfindungen — wie sie sich beispielsweise an seiner Rechenmaschine
zeigt und in seiner Harztätigkeit dokumentiert — ist immer
geleitet von dem praktischen, am Gemeinwohl ausgerichteten Nutzen. Die
juristische Grundlagenforschung und Rechtsreform soll der auch der
Abkürzung der Prozesse dienen und die Verbindlichkeit von
Rechtsurteilen gewährleisten. Das mit der demonstrativen
Universalwissenschaft verbundene Postulat der Nachprüfbarkeit
wissenschaftlicher Aussagen soll dem sinnlosen Streit der Meinungen auf
rationale Weise ein Ende bereiten und zugleich den rationalen Weg zu
neuen Erfindungen im Sinne einer Inventionskunst weisen. Und auch die
Überlegungen zu den Grundlagen der Physik sollen neue technische
Erfindungen ermöglichen. All diese Motive des Leibnizschen Denkens
und Handelns spiegeln sich — gemäß seinem Wahlspruch
“theoria cum praxi” — gerade in dem Briefwechsel des jungen Leibniz
wider und weisen ihn als das Gegenteil eines weltabgewandten
Elfenbeinturmphilosophen aus.