Der Blog des Pop-Archivs

Projekte des Archivs und (kuriose) Funde, dokumentiert (und gelegentlich kommentiert) von den Mitarbeiter:innen des Lehrstuhls & friends.

Bericht über die Gründung des Archivnetzwerks Pop im Deutschlandfunk

Am 5. Mai 2017 wurde feierlich die Website des  Archivnetzwerks Pop im rock'n'popmuseum in Gronau gelauncht. Der Deutschlandfunk berichtete ausführlich über die Gründung des Verbundes, zu dessen Mitgliedern neben dem rock’n’popmuseum Gronau, dem Archiv der Jugendkulturen in Berlin e.V., dem Archiv für populäre Musik im Ruhrgebiet in Dortmund, dem Musikarchiv NRW in Köln und dem Lippman+Rau-Musikarchiv in Eisenach ebenfalls das Pop-Archiv der Universität Münster zählt.

Ziel des Verbundes ist es, die Arbeit dieser Archive und die dort gesammelten popkulturellen Quellen in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen und den Austausch zwischen den einzelnen Einrichtungen zu erleichtern. Die in den verschiedenen Archiven bewahrten Materialarten reichen von Fanzines und Zeitschriften über Plakate und Flyer, Tonträger, Filmaufnahmen und Fotos bis hin zu Nachlässen und anderen popkulturellen Materialien. Außerdem betreiben manche der Archive wissenschaftliche Fachbibliotheken mit umfangreichen Beständen an Sekundärliteratur zu popkulturellen Themen.

 

Riot Grrrls in Spiegel und Spex

Zuerst veröffentlicht am 11.10.16 auf der Webseite von Pop, Kultur & Kritik.

Es hatte schon Gründe, dass die Riot Grrrls schon in einem der Gründungsdokumente der Szene eigene Veröffentlichungen herbeisehnten. Ein gern zitierter Satz aus dem ersten Riot-Grrrl-Manifest (1991), verfasst von Kathleen Hanna, lautet: „BECAUSE us girls crave records and books and fanzines that speak to US that WE feel included in and can understand in our own ways.“[1]

Die Bewegung richtet sich damit Anfang der 1990er nicht nur gegen den „beergutboyrock“ der eigenen Szene, sondern auch gegen eine „society that tells us Girl = Dumb, Girl = Bad, Girl = Weak“.[2] Die Selbstbezeichnung Riot Grrrl ist dementsprechend eine Rückaneignung des pejorativ verwendeten Girls und bedeutet einen Bruch mit herangetragenen Rollenerwartungen, denen mit Radikalität entgegengetreten werden soll. Die drei „r“, die das „i“ ersetzen, sollen rollend, grollend, aggressiv klingen.

Die angekündigte Revolution Girl Style Now, die sich in Olympia, Washington gleichermaßen aus Art-School- wie Punk- und Hardcorekontexten entwickelt, erreicht schnell Washington D.C. und schließlich den Rest der Vereinigten Staaten. Junge Frauen schaffen sich ihre eigenen Räume, gründen im Do-it-yourself-Modus Bands sowie Platten-Labels, veranstalten Konzerte und veröffentlichen Zines[3].

Das Riot-Grrrl-Movement bleibt jedoch nicht lange underground. Ein erster großer Artikel erscheint 1992 in der Tageszeitung USA Today, dort heißt es u. a.: „Feminist Riot Grrrls Don’t Just Wanna Have Fun. […] Better watch out, boys. From hundreds of once pink, frilly bedrooms, comes the young feminist revolution. And it’s not pretty. But it doesn’t wanna be. So there!“[4]

Die Riot Grrrls sind überhaupt nicht zufrieden mit ihrer Repräsentation in den Medien. Schon im Titel wird den Feministinnen mit einer lahmen Cindy-Lauper-Referenz Spaßfeindlichkeit attestiert, im Text werden Klischees von Weiblichkeit bemüht (gerüscht, pretty und pink), die der ganzen Bewegung die Ernsthaftigkeit nehmen wollen.

Dieser und andere Berichte sind Gründe dafür, dass die Riot Grrrls schließlich einen „media blackout“ beschließen: „no more interviews, no more photos, no more acces.“[5] Die Verweigerungshaltung verhindert allerdings mitnichten die Berichterstattung. Ist ein Reden mit den Riot Grrrls nicht mehr möglich, muss eben noch mehr über sie geredet werden.

So auch im deutschsprachigen Raum, wo im Herbst 1992 der wohl erste Artikel in der bürgerlichen Presse erscheint, und zwar im Spiegel – Titel: „Revolution auf Mädchenart“.[6] 

 

 

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© Germanistisches Institut, Uni Münster

In: Der Spiegel 50 (1992), S. 5.

Was im Inhaltsverzeichnis noch ganz viel versprechend klingt, kippt sobald Seite 242 aufgeschlagen ist. Augenhöhe? Wiederum Fehlanzeige. Aus den feministischen Aktivistinnen werden für die Autor_innen schon im Teaser bloß „kreischende Teenager“, im Fließtext ist von „Krawallgören“ die Rede. Der Bewegung wird die Schlagkraft genommen, wenn in den Bildunterschriften der fünf illustrierenden Bilder das Wort Riot für allerhand Komposita verwendet, dabei allerdings jeweils in Anführungsstriche gesetzt wird: „‚Riot’-Fans, ‚Riot-Mädchenbands’“, „‚Riot’-Gruppe’“.

Im Spiegel werden aus den Riot Grrrls eindimensionale Figuren, aus den Bandnamen werden Lachnummern. Courtney Love ist für den Spiegel eine „Schmuddelblondine […] im Baby-Doll-Kleidchen“, „Kathleen Hanna zieht die Bluse aus.“ Die für das Verständnis unnötige Übersetzung des Bandnamens lässt ein unangenehmes Augenzwinkern erahnen, wenn von „‚Hole’ (Loch)“, die Rede ist und aus dem im Englischen mehrdeutigen Namen Babes in Toyland nur „Kinder im Spielzeugland“ wird.

Auch am Publikum der Bands ist vor allem der Look spannend: „Sie haben ihre Brandzeichen auf den Körper gemalt oder tätowiert, auf die Finger, die Stirn, das Stück bloße Haut zwischen kurzgeschorenem Haarschopf und Schmuddelhemd, zwischen löchrigem Saum und Springerstiefeln. Sperrmüllkleider wie die frühen Punks tragen sie gern.“

Dass die Frauen Mode und Body-Beschriftungen als Codes nutzen, um die Deutungsmacht über ihre eigenen, objektifizierten Körper wiederzuerlangen,[7] geht in den sensationsgeilen, skandalisierenden Schilderungen des Spiegel völlig unter.

Obwohl die Recherche offenkundig die Lektüren der Riot Grrrls (Susan Faludis Backlash, Naomi Wolfs Beauty Myth, Sonic Youth) zutage gefördert hat, wird den jungen Frauen nicht recht zugetraut, sie auch verstanden zu haben, „Theorien haben sie nicht“. Überhaupt sind die Ziele und Anliegen der Bewegung, die zum Teil sicher zum Slogan taugen, oft aber auch in Manifesten und Lyrics ausformuliert sind, im Spiegel auf verkürzte Floskeln heruntergebrochen.[8] Auf die für die Bewegung so zentralen Faktoren „Mädchenpower und Solidarität“ wird nur am Rande eingegangen und auch die empowernden Foren der Bewegung abseits der Konzerte, also persönliche Treffen, Telefonketten und Zines zum Beispiel, finden kaum Erwähnung.

Gänzlich anders funktioniert der Artikel in der Spex, der einige Monate nach der Veröffentlichung des Spiegel-Artikels erscheint.[9] Kerstin Grether, damals noch freie Autorin, nicht Redakteurin, veröffentlicht einen dreiseitigen, textlastigen und informierten Beitrag zur Riot-Grrrl-Bewegung. Zwar wird ihr Text neben anderen, etwa zu „Sport & Nationalismus“ und zu Luscious Jackson, neutral auf dem Cover angeteast, ein paar Stolpersteine werden (vermutlich redaktionsseitig) dann doch ausgelegt; etwa im Inhaltsverzeichnis:

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© Germanistisches Institut, Uni Münster

 

Spex 10 (1993), S. 3.

Der Titel „DUMM…HÄSSLICH…………UNCOOL…“ löst bei Informierten Assoziationen zum bereits zitierten Manifest aus, klingt für den Rest aber vor allem abwertend.[10] Schon der durchaus selbstkritische Teaser zum Text versöhnt allerdings.[11]

Was dann folgt ist ein umfassender Text, der das Riot-Grrrl-Phänomen auf ganz verschiedenen Ebenen reflektiert und politisch wie popkulturell einordnet. Anstatt, wie der Spiegel, auf kurzatmige Plattitüden zu setzen, breitet Kerstin Grether den Diskurs aus. Sie verdeutlicht die Bezüge der Riot Grrrls auf Pop-Traditionen und verdeutlicht, dass eben nicht nur die typische Frau in der Musik – „Sängerin, Chanteuse, Diva“ – Referenz ist, sondern auch der Punk.

Als Gemeinsamkeiten stellt sie etwa heraus: „Ablehnung der Kulturindustrie, ein betont aus Häßlichkeits-Utensilien zusammengestöpselter Look, Zeitdruck, Learning By Doing, Growing Up In Public bei gleichzeitiger Lesbarmachung des Hypes“. Auf den ersten Blick Oberflächliches, wie der Look, wird nicht ausgeklammert, aber eben auch nicht ausgestellt. Eine Entschlüsselung der Riot-Grrrl-Codes gelingt Kerstin Grether dann auf den zweiten Blick, wenn sie die „Darstellung von aufgeritzter, zerrissener, tätowierter Körperlichkeit, Überspitzung und Vorführen von Porno-Industrie am eigenen Leib“ beschreibt und zu dem Schluss kommt, „was Madonna in die Medien einschrieb, schreiben sie sich zurück auf den Körper“.

Diese Körper bleiben im Spex-Beitrag angenehm unsichtbar. Zur Illustration des Beitrags dient – ohne entsprechenden Credit – lediglich ein Ausschnitt aus dem Coverbild der Split-12“, die die britische Riot-Grrrl-Band Huggy Bear 1993 gemeinsam mit Bikini Kill veröffentlicht hat. Zu sehen ist eine einfache Schwarz-Weiß-Zeichnung dreier Frauen in Fantasie-Band-Shirts – so weit, so unspektakulär.

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© Germanistisches Institut, Uni Münster

In ihrer frühen Riot-Grrrl-Einordnung schreibt Kerstin Grether bei allem Support, der gar in die solidarisierende Adressierung der „Genossinnen“ gipfelt, auch über kritische Momente der Bewegung. Sie philosophiert dazu, die Spex-Diskurse der Zeit weiterführend, über das politische Potential und die Widersprüche: „Was bedeutet diese erste kollektive, explizit feministische Aufbruch von Punk-Mädchen in Zeiten, wo ‚Change’ nur noch parodistischen, zynischen Charakter hat, wo Reformprojekte Scheitern implizieren?“ Grether schreibt den Riot Grrrls abschließend einen kämpferischen „Post-Optimismus“ zu. Obwohl das Postulat eben nicht „Alles wird besser“ lautet, so geht es doch voran.

 

 

 

 

Anmerkungen

[1] Hanna, Kathleen. „Riot Grrrl Is…“ [1991]. The Riot Grrrl Collection. Hrsg. von Lisa Darms. New York: The Feminist Press 2013, S. 143.

[2] Ebd.

[3] Das wohl umfassendste Archiv zu Zines der US-amerikanischen Riot-Grrrl-Geschichte befindet sich in New York City und ist an die Fales Library der New York University angeschlossen: http://guides.nyu.edu/riot-grrrl. Siehe hierzu auch die Publikation von Lisa Darms: The Riot Grrrl Collection.

[4] Zitiert nach Sara Marcus: Girls to the front. The true story of the Riot Grrrl Revolution. New York 2010. S 169.

[5] Marcus: Girls to the front. S. 200. Ähnliches beschreibt Julia Downes für die amerikanische, dann auch für die britische Szene (vgl. Julia Downes: „There’s a riot going on. Geschichte und Vermächtnis von Riot Grrrl“, in: Katja Peglow und Jonas Engelmann: Riot Grrrl Revisited. Geschichte und Gegenwart einer feministischen Bewegung. Mainz: Ventil 2013, S. 18-50).

[6] O. A.: „Revolution auf Mädchenart“, in: Der Spiegel 50 (1992), S. 242-246. Ein Hinweis: Es ist davon auszugehen, dass ein Autor_innenkollektiv für den Beitrag verantwortlich zeichnet, bis 1998 wurden im Spiegel jedoch nur vereinzelt Beiträge namentlich gekennzeichnet.

[7] Wie auch Sarah Held kürzlich in ihrem Artikel zu „Fashionable Feminism“ anklingen ließ.

[8] Die Manifeste der Riot Grrrls nimmt sich Gudrun Ankele vor („Mädchen an die Macht. Manifeste und Geschichten feministischen Widerstands“, in: Jonas Engelmann und Katja Peglow: Riot Grrrl Revisited, S. 51-60); die Lyrics analysiert Jonas Engelmann („I will decide my life. Die Lyrics der Riot Grrrls“, ebd., S. 126-136).

[9] Kerstin Grether: „DUMM…HÄSSLICH…………UNCOOL…“, in: Spex 10 (1993), S. 32-34.

[10] Kerstin Grether hat den Titel zur überarbeiteten Wiederveröffentlichung des Textes auch entsprechend geändert: „Lips? Tits? Hits? Power! Die Riot Girls machen einen Aufstand in den Strukturen des Musikgeschäfts“, in: Dies.: Zungenkuß. Du nennst es Kosmetik, ich nenn es Rock’n’Roll. Musikgeschichten 1990 bis heute, Frankfurt am Main 2007, S. 48-58.

[11] Dort heißt es u. a. leicht verkürzt und dennoch selbstkritisch: „Immer noch lesen mehr Männer als Frauen diese Zeitung. Das ist nur ein Beispiel für die Tatsache, daß Frauen in der Popmusik völlig unterrepräsentiert sind.“

 

Dr. Anna Seidel war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Moritz Baßler in Münster. Sie wurde promoviert zu Pop-Manifesten und schreibt als freie Autorin u. a. für das Missy Magazine und die testcard. Bei Twitter ist sie auch.

1949: Haustiere und Heidegger. Über ein Stück Erziehung aus der Hör Zu!

Zuerst veröffentlicht am 06.08.16 auf der Webseite von Pop, Kultur & Kritik.

„Freundschaft mit Tieren“ heißt ein Beitrag in der Reihe „Du und Deine Kinder“ im Frauenfunk des NWDR vom Mittwoch, den 02. März 1949. Obwohl die Sendung nur rund fünf Minuten umfasst (8.55 bis 9.00 Uhr), weist das Frontblatt der größten Rundfunkzeitung nach dem Zweiten Weltkrieg extra mit einem Foto auf den Programmtipp hin.

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© Germanistisches Institut, Uni Münster

 

Die Fotografie stammt nicht etwa aus dem Filmklassiker Lassie Come Home von 1943 (MGM, R.: Fred M. Wilcox). Das Bild zeigt die US-amerikanische Schauspielerin Marsha Hunt bei einem Publicity Shooting für Paramount Pictures. Der Collie ist dennoch kein Zufall. Lassie war zu dieser Zeit schon bekannt, in Deutschland kam der Film unter dem Titel Heimweh in die Kinos.

In geradezu ostentativer Form inszeniert der Publicity Shot freundschaftliche Verbundenheit. Über die Blickachse, die Lippenfarbe und Frisur, die Stellung der rechten Hand und die Maniküre bis zur irritierenden Quaste sowie dem linken Arm, der den Collie umschließt und den sprechenden Hintergrund für die Ankündigung des Sendungsthemas liefert, analogisiert die Fotografie die Abgebildeten auf bestmögliche Weise. Anthropomorphisierung bzw. Animalisierung unterstreichen die Nähe zwischen ,Frauchen‘ und Collie.

Gerade vor dem Hintergrund der Sendereihe muss man das inszenierte Verhältnis zwischen Frau und Tier als ein gegendertes begreifen. Dass das Haustier beinahe auf dem Schoß der Schauspielerin sitzt und dadurch als Vertrauter sowie potentielles Erziehungsmittel in Position gebracht wird, ist ein Effekt der fotografischen Inszenierung im Kontext des Hefts.[ii] Zusätzlich zu dieser Verknüpfung von Frau, Tier und Erziehung / Haushalt weht nicht zuletzt ein Hauch von Hollywood durch die deutschen Wohnstuben. Die Bildunterschrift „Foto: Paramount“ sowie Hunts style, von der Quaste einmal abgesehen, zeigen es an.

Titelbilder wie dieses gehören zum Standardrepertoire der frühen Hör Zu! Filmstars sowie Archivfotografien von putzigen Kleinkindern und Haustieren wechseln sich auf den Frontseiten der Zeitung ab oder werden zur Affektsteigerung direkt miteinander kombiniert. Mit geringem oder keinem Bezug zum Heftinhalt verfügen die Bilder über einen emotionalisierenden Eigenwert, auf Hunt wird im Heft beispielsweise gar nicht eingegangen. Spontane Assoziationen wie ,niedlich‘, ,witzig‘, ,schön‘ etc. sind neben dem Programmhinweis der primäre Zweck der Bildwahl, die ganz im Dienst der allgemeinen Linie des Blatts steht.

Hör Zu! wird 1946 von Axel Springer unter Lizenz der britischen Militärregierung in Hamburg gegründet und dann in die redaktionelle Betreuung des Journalisten Eduard Rhein gegeben.[iii] In unterhaltender und dezidiert unpolitischer Ausrichtung konzentrieren sich Rhein und seine MitarbeiterInnen auf die Dokumentation des Rundfunkprogramms sowie die Vermittlung traditioneller Werte.

Die Zeitung folgt darin grob der Re-Education der Alliierten, gibt sich aber vor allem heiter und optimistisch, erbaulich, informativ und stets unverfänglich. Neben den obligatorischen Programmbeschreibungen liefert Hör Zu! Rätsel und Witze, Informationen über Rundfunktechnik und Portraits von Rundfunkschaffenden in den Rubriken Den möchte ich sehen sowie Wo sie blieben und was sie trieben.

Vor allem im Zuge der Neuausrichtung der Zeitung ab Herbst 1949 nimmt die Wertvermittlung noch einmal merklich zu. Hör Zu! verdoppelt den Umfang und entwickelt sich zeitweilig zur auflagenstärksten Illustrierten Europas. Im Zentrum ihres gesellschaftlichen Auftrags steht kennzeichnend für die 1950er Jahre das christliche Idealkonstrukt ,Familie‘ mit seinen Eckpfeilern Harmonie, Behaglichkeit, Sicherheit und Produktivität. Fortan wird Eduard Rhein die LeserInnen der Zeitung als ,Hör Zu!-Familie‘ adressieren: Auf zahlreichen Seiten bietet das Blatt alltagspraktische Tipps, Hilfe verschiedener Art und die Möglichkeit der Beratung an, am bekanntesten sicher in der von Walther von Hollander geleiteten Rubrik „Fragen Sie Frau Irene“.

Abgerundet wird die Leserbindung durch kluges branding. An seiner Spitze steht der Zeitungsigel Mecki, Signum der 1950er Jahre, Namensgeber für einen Haarschnitt, Comic-Protagonist und bieder-gemütlicher Modellleser, in dem sich die Hör Zu!-Familie wiederfinden soll.[iv] Nahbarkeit ist ein Schlüsselwort dieses Presseerfolgs, der Kritiker dazu veranlasst hat, der Hör Zu! den Beinamen ,neue Gartenlaube‘ zu geben.[v]

Im März 1949 ist all dies noch entfernt, auch wenn es sich andeutet. Vor allem das Ende der Programmbeschreibung zur Sendung „Freundschaft mit Tieren“ in der Reihe „Du und Deine Kinder“ zeigt schon in die erbaulich-familiäre Richtung. Erziehungspraktisch orientiert lautet der Rat:

„Wir sollten den Kindern solche glückvollen Freundschaften mit Tieren, wenn es irgend geht, gewähren. Denn sie gewinnen nicht nur Schätze für ihr späteres Leben, sondern sie lernen auch manches in ihrem erwachenden und wachsenden Herzen an liebevoller Duldsamkeit dem schwächeren Wesen gegenüber.“[vi]

Helga Prollius, die Leiterin des NWDR Frauenfunks, formuliert durchaus im getragenen, mitunter ein wenig geschraubt daherkommenden Duktus der Zeit; Tiere und Kinder, das passt zusammen, vielleicht machen Haustiere die Kleinen sogar zu tugendhafteren Menschen – ein versöhnliches closing statement.[vii] „Tiere im Heim! Eine Quelle der Freude und Belehrung, eine Erholung und Entspannung“, heißt es ähnlich in Ingo Krumbiegels „Von Haustieren und ihrer Geschichte“ (1947), einer Buchbeigabe des Kosmos. Gesellschaft der Naturfreunde, die „in Worten die jeder versteht […], von Tieren und Blumen der Heimat und ferner Länder“ berichten will[viii]. Dagegen schlägt der Beginn der Hör Zu!-Programmbeschreibung zunächst eine geradezu verblüffende Richtung ein:

Freundschaften mit Tieren bringen in das Leben manches Menschen warme und tiefe Freude. Ja, es gibt viele, die zu der traurigen Erkenntnis kommen, dass Tiere besser seien als Menschen. Auch Philosophen, Staatsmänner und Künstler – denken Sie an Schopenhauer und dessen Pudel Atma – haben sich zur stummen Kreatur hingezogen gefühlt und ein ganz persönliches Verhältnis zu ihr gepflegt.[ix]

Schopenhauer-Anekdoten für die erziehenden RadiohörerInnen? Diese betont bildungsbeflissene Konturierung der Hör Zu! wird im Laufe der 1950er-Jahre kaum mehr eine Rolle spielen. 1949 ist sie lediglich das Warm-Up für einen Sprung in weit elitärere Sphären. Erziehung heißt in Prollius’ Beitrag nicht zuletzt Erziehung der HörerInnen in Rückgriff auf die abendländische Bildungstradition. Von Atma aus geht es im zweiten und dritten Passus über zu existential-ontologischen Ausführungen à la Heidegger:

Der Mensch setzt sich durch seinen schöpferisch denkenden Geist vielfach in Widerspruch zu Welt und All. Er muß es auch, weil er allein aus diesem Gegensatz seine stärksten Persönlichkeitswerte hervorzuläutern vermag. Das Tier hingegen steht fest und unbewußt sicher im Kosmos; widerspruchslos ruht es als Kreatur im Sein. Es ist in sich geschlossen, ganz für sich. Ohne Rückbiegung (Reflexion) auf sich selber passt es sich in seine Umwelt ein.

Seit je ist durch dieses einfache Da-Sein, das so ohne Frage ist, das Tier dem Menschen in fast heiligem Licht erschienen. Die alten Kulturvölker verehrten ihre Gottheiten in Tiergestalten: die Chinesen im Drachen Lung, die Ägypter im Stier Apis. Noch Homer gab seinen Göttinnen Hera und Athene die Beinamen ,boopis‘ und ,glaukopis‘, hergeleitet vom majestätisch blickenden Auge der Kuh und dem scharffassenden Sehen der klugen Eule. Alles Beweise, daß das Anders-Sein der Tiere, ihr Freisein von schwächlicher Verwirrung und Verstrickung in Eitelkeit und Laster mancher Art, den Menschen ergriffen und beschäftigt haben muß.[x]

Als schillernde Ausnahmen innerhalb der Hör Zu! partizipieren solche Textstellen an einem breiten Diskursphänomen der späten 1940er Jahre. Metaphysische und ontologische Argumentationen mit ihren bisweilen salbungsvollen Universalisierungen sind en vogue. Abstrakte Großkategorien wie ,Sein‘, ,Seele‘, ,Geist‘ und ,Abendland‘ dienen als Eckpfeiler der rückwärtsgewandten Erneuerung nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Beitrag wie „Freundschaft mit Tieren“ popularisiert dieses Phänomen. Er entlehnt den Duktus samt der für Heidegger charakteristischen Worttrennungsstriche und hebt mit Hilfe des philosophischen Vokabulars Verfasser, Gegenstand und Adressaten gleichermaßen auf einen Sockel.[xi] Versatzstücke aus dem Arsenal der humanistischen Tradition (boopis, glaukopis etc.) flankieren die Diskursstrategie und offerieren den LeserInnen Erbauung im Rahmen einer als privilegiert ausgewiesenen, bildungsgesättigten Erfahrung.

Auch in den 1950er Jahren sind Tiere nach wie vor ein Dauerthema der Hör Zu! Doch der weihevolle Ton ist verschwunden. Die Beiträge, in denen die Tiere häufig selbst ,zu Wort kommen‘, verbinden Heimat- und Domestikationssemantiken mit vorwiegend humoristischem Einschlag.[xii] „Schwarzkittel wird Zivilist“ ist der Titel einer Bildergeschichte von 1956. Mecki wird es gefreut haben:

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© Germanistisches Institut, Uni Münster

 

Anmerkungen

[i] Das verwendete Material stammt aus dem Pop-Archiv des Germanistischen Instituts der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

[ii] Julia Bodenburg hat in verschiedenen Texten auf das Gendering im Verhältnis von Tieren und Frauen / Männern hingewiesen. Vgl. etwa „Transhumanistische Erweiterungen. Gender und Animal Studies“, in: Diversity Trouble. Vielfalt – Gender – Gegenwartskultur, hg. v. Peter C. Pohl und Hania Siebenpfeiffer, Berlin, o.S. [erscheint 2016].

[iii] Vgl. Seegers, Lu: Hör zu! Eduard Rhein und die Rundfunkprogrammzeitschriften (1931-1965), 2. Aufl., Potsdam 2003, S. 159-174 (= Veröffentlichungen des deutschen Rundfunkarchivs, Bd. 34). Zur beruflichen Biografie Eduard Rheins vgl. S. 39-86.

[iv] Vgl. Seegers: Hör zu! S. 191-208.

[v] Vgl. Becker, Rolf: „Die neue Gartenlaube“. In: Der Monat, Jg. 13 (1960), S. 52-58.

[vi] Prollius, Helga: „Freundschaft mit Tieren“. In: Hör Zu! 10 (1949), S. 5. Die erwähnte „Duldsamkeit dem schwächeren Wesen gegenüber“ ist womöglich als implizite Abgrenzung gegenüber der NS-Ideologie zu verstehen.

[vii] Wie zahlreiche MitarbeiterInnen der Hör Zu! war Prollius (Jg. 1910) bereits vor 1945 beim Rundfunk tätig, zunächst in Berlin, dann in Frankfurt am Main, schließlich in Prag. Hier promovierte sie sich mit einer Arbeit über Rilke, anschließend ist sie als Assistentin am Philosophischen Seminar angestellt. Nach dem Krieg ist sie parallel zum NWDR freie Mitarbeiterin bei der Zeitschrift Constanze, 1959 veröffentlicht sie mit Alma De L’Aigle eine Kleine Erziehungsfibel. Vgl. Kuhnhenne, Michaela: Frauenleitbilder und Bildung in der westdeutschen Nachkriegszeit. Analyse am Beispiel der Region Bremen, Wiesbaden 2005, S. 203.

[viii] Krumbiegel, Ingo: Von Haustieren und ihrer Geschichte. Stuttgart 1947, S. 2 und 6 (= Kosmos-Bändchen).

[ix] Prollius: „Freundschaft mit Tieren“. S. 5.

[x] Prollius: „Freundschaft mit Tieren“. S. 5.

[xi] Auf die argumentativen Parallelen kommt es weniger an, obgleich es sie gibt. So erinnert der Gedanke des „ganz für sich sein“ des Tiers, seine Reflexionslosigkeit (ohne „Rückbiegung“) im „einfachen Da-Sein“, vage an Heideggers Freiburger Vorlesung zu den Grundlagen der Metaphysik aus dem Wintersemester 1929 / 30. Über das „auffällig[e] Beispiel“ der „Haustiere“ heißt es dort: „Aber wir leben nicht mit ihnen, wenn Leben besagt: Sein in der Weise des Tieres. Gleichwohl sind wir mit ihnen. Dieses Mitsein ist aber auch kein Mitexistieren, sofern ein Hund nicht existiert, sondern nur lebt“. Da es ,nur lebt‘ ist das Tier durch ein „Sich-zu-eigen-sein“ gekennzeichnet, das meint, „sich selbst Eigentum zu sein, ohne Reflexion“. Heidegger fragt in § 50 nach dem „Sichversetze[n] des Menschen in das Tier“, das erst durch das Tier prinzipiell ermöglicht wird, anders als etwa im Falle des Steins, der ein Sichversetzen in ihn nicht zulässt. Allerdings bedeutet dies nicht, dass dieses Sichversetzen in das Tier in der gleichen Weise gelingt, in der es zwischen Menschen möglich ist: „Ein Mitgehen, eine Versetzheit – und doch nicht“. Freundschaft spielt schon allein aufgrund dieser Bestimmung des menschlichen Verhältnisses zum Tier in Heideggers Überlegungen keine Rolle. Vgl. Heidegger, Martin: GA 29/30. S. 308 und 342 [Hervorhebungen im Original]. Eine ähnliche Differenzmarkierung klingt 1946 im Brief „Über den ,Humanismus‘“ an, in dem Heidegger eine „Vertierung des Menschen“ von Seiten der anthropologischen und humanistischen Tradition konstatiert. Der Mensch werde „von der animalitas her und nicht zu seiner humanitas hin“ gedacht, wodurch eine Bestimmung des menschlichen Wesens verhindert würde. Vgl. Heidegger, Martin: „Brief über den ,Humanismus‘“. In: Ders.: Wegmarken. Frankfurt a.M. 1967, S. 145-194, hier S. 154. Zum Tier in Heideggers Philosophie vgl. Därmann, Iris: „Von Tieren und Menschen. Martin Heidegger, Jaques Derrida und die zoologische Frage“, in: ZKph 5 (2011), S. 303-325, bes. S. 307-320.

[xii] Dabei spielt die Rundfunkzeitschrift heimische Tiere immer wieder gegen als ,faszinierend‘, aber ,gefährlich‘ markierte Exotismen aus. Vgl. etwa die Beiträge über die Tsetse-Fliege oder das US-amerikanische Bullenreiten in der Hör Zu! 10 (1949), S. 15 und 11 (1956), S. 26. Die Heimatsemantik prägt den Diskurs über Tiere und Haustiere nach 1945. Krumbiegels Von Haustieren und ihrer Geschichte beginnt mit dem kuriosen Gedanken, Zoos könnten aufgrund der in ihnen zu betrachtenden Artenvielfalt, den „Großstadtmenschen“ „naturfrem[d]“ machen, d. h., ihn von heimischen Tieren entfremden. Man beachte den insistierenden Zusatz: „Eine derartige Behauptung mag übertrieben klingen, aber es steckt ein wahrer Kern in ihr“. Krumbiegel: „Von Haustieren und ihrer Geschichte“. S. 5.

 

Dr. Philipp Pabst ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Universität Münster.

Watch out for the American Subtitles!

Das Pop-Archiv erweitert seinen Bestand um angloamerikanische Underground- und Teenager-Magazine aus den 1960er Jahren.
Underground-/Teen-Mags

Mit der Anthologie Acid gibt Rolf Dieter Brinkmann gemeinsam mit R. R. Rygulla 1969 ein Textkonglomerat aus Prosa, Lyrik und Photos, sowie Collagen und Comics heraus, das die etablierten Tendenzen und Rezeptionsmuster der Nachkriegsliteratur nachhaltig irritiert und transgrediert. Die Vorlagen zu diesen Übersetzungen  stammen u.a. aus dem breiten Fundus der New Yorker "Underground Press", die mit antibürgerlichem Impetus Politik, Zeitgeschehen und Subkultur auf provokative Weise verhandelt.

Einige der von Brinkmann genannten Zeitschriften (East Village Observer, New American Express) fanden nun ihren Weg aus dem New Yorker East Village in unser Pop-Archiv. Ein neuer Schwung an britischen und amerikanischen Musik- und Teenagermagazinen (Datebook, Teenlife) laden ebenfalls dazu ein, den angloamerikanisch-deutschen Kulturtransfer der Nachkriegszeit (hier besonders zu jugendspezifischen Themen) nachzuvollziehen.

Neu in unserem Bestand:

Teenlife, Datebook, Rock, Fabulous, International Underground, New York Free Press, New Musical Express, The East Village Observer

Weitere Neuanschaffungen/Erweiterung des vorhandenen Bestands:

Musikexpress, Sounds, Spex, Twen, Bravo (bis in die späten 1960er Jahre)

Die Hefte können gerne zu den Öffnungszeiten oder auf Nachfrage eingesehen/gescannt werden.

 

– Anna Seidel

 

Besuch aus den Archiven – Das Berliner Archiv der Jugendkulturen e.V. zu Gast in Münster

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Daniel Schneider im Archiv der Jugendkulturen e.V.

Im Anschluss an eine gemeinsame Besichtigung des Duisburger Archivs für alternatives Schrifttum (u.a. Herausgeber des Spex-Registers), begrüßten wir Daniel Schneider vom Archiv der Jugendkulturen e.V. bei uns in Münster.

Das in Berlin/Kreuzberg ansässige Archiv der Jugendkulturen e.V. sammelt Materialien aus und über Jugendkulturen, betreibt eine Fachbibliothek und ist daneben im Bereich der politischen und kulturellen Bildung aktiv. Der Bestand umfasst u.a. 8000 Bücher und Broschüren, 600 Magister- und Diplomarbeiten, 7.000 CDs, LPs, MCs, DVDs und Videos sowie zehntausende Flyer und hunderte Plakate. Ein riesiger Korpus an Fanzines und Zeitschriften bildet zudem das Alleinstellungsmerkmal des Archivs. Der mehr als 40.000 Einzelhefte umfassende Bestand besteht u. a. aus der größten öffentlich zugänglichen Sammlung an Punkfanzines in Deutschland, daneben gibt es einzigartige Sammlungen u. a. in den Bereichen Graffiti & Street Art, Techno, Hip Hop, Metal, Ultras, Gothic und Skinheads.

Nicht nur in geistiger, sondern auch in materieller Hinsicht gestaltete sich der Austausch als sehr bereichernd für unser Archiv:

Neben Ergänzungen zu bisherigen Jahrgängen von Zeitschriften wie Spex und Konkret, konnten wir mit dem Ostdeutschen Bravo-Pendant Neues Leben und den Kopien seltener erster deutschsprachiger Science-Fiction Zines (Andromeda) aus den 1950er Jahren wahre „Perlen der Nachkriegszeit" in unseren Bestand aufnehmen.

 

Ein gemeinsamer Besuch der Tagung  Electricity – Elektonische Musik aus Düsseldorf  im NRW-Forum rundete schließlich den „Berlin-Austausch“ ab.

Weitere Informationen über das Archiv und dessen aktuelle Projekte finden Sie unter:

http://www.jugendkulturen.de/

 

– Hannah Zipfel

Ob das Fernsehen den Rundfunk schlägt...

... fragen sich die BRAVO und ihre Leser:innen 1958.
Fernsehenrundfunk Klein