Narration und Principlism
Welche Rolle spielt Narration in der Medizin? Was hat es mit „Prinzipien mittlerer Reichweite“ auf sich und wie verhalten sie sich zum konkreten medizinischen Fall? Die Gelegenheit zur Diskussion dieser doch sehr unterschiedlichen Fragen ergab sich anlässlich eines Forschungsaufenthaltes des Medizinethikers Professor James F. Childress und der Medizinpädagogin Professor Marcia Day Childress (beide University of Virginia) an der Kolleg-Forschergruppe „Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik“. Im Rahmen einer Master Class am 7. Juni konnten sich 20 Studierende und Nachwuchswissenschaftler/innen der Philosophie, der Medizin und der Pädagogik mit den beiden Experten über deren medizinethische Positionen austauschen.
Narration
In der ersten Hälfte der Masterclass standen dabei die Arbeiten von Marcia, insbesondere zur Bedeutung von Narration in der Medizin, im Vordergrund. Marcia Childress plädierte dabei für eine Ablösung von einem ingenieurswissenschaftlichen Verständnis von Medizin, wie es der (rein) biomedizinische Ansatz darstelle. In diesem Ansatz wird Medizin in erster Linie unter dem Gesichtspunkt einer Reparaturwerkstatt, vergleichbar einer Autowerkstatt, betrieben, in der es in erster Linie darum geht, defekte Teile zu identifizieren und zu reparieren oder gegebenenfalls auszutauschen.
Demgegenüber betonte Childress die in den späten 1970er Jahren einsetzenden Paradigmenwechsel hin zu einem biologisch-psychologisch-sozialen sowie einem biologisch-kulturellem Ansatz. Beide berücksichtigen neben der biomedizinischen Perspektive auf die Funktionalität des Körpers auch die Bedeutung der Krankheit für den Patient in seinem individuellen Leben und vor seinem sozialen und kulturellen Hintergrund.
Eine so erweiterte Perspektive erfordert es, neben medizinischen Fakten auch Wissen über die Selbstbeschreibung einer Person zu sammeln. Für die Ausbildung von Medizinern bedeutet dies, dass unter fachlicher Ausbildung nicht nur das Erlangen von biologisch-medizinischem Wissen verstanden werden kann, sondern auch Kenntnisse darüber erlangt werden müssen, wie man aus bestimmten Narrativen in der Selbstbeschreibung von Personen Informationen darüber erhalten kann, wie der Patient sich selbst versteht und welche Rolle die Krankheit im Kontext seines gesamten Lebens spielt.
In der Diskussion erfuhr der Ansatz von Childress breite Zustimmung. Die wesentlichen Bedenken richteten sich auf die Fragen, ob Mediziner so nicht zeitlich überfordert werden sowie dem Patienten „zu nahe kommen“, wodurch sie sich selbst verletzlich machen. Außerdem bestanden Zweifel, ob es für Mediziner nicht auch die Möglichkeit geben muss, ein weitgehend funktionales Verständnis ihres Berufes zu verfolgen. Dem entgegnete Childress, dass die Grenzen zwischen Verständnis und Einfühlung einerseits und Selbstverletzlichkeit andererseits fließend sei, dass ein Stück weit Bereitschaft zu letzter für gute Mediziner erforderlich, zu viel jedoch schädlich sei.
Principlism
Im zweiten Teil der Masterclass standen dann die Arbeiten von James F. Childress im Mittelpunkt, wobei in erster Linie die Frage nach der angemessenen Methodik in der Bioethik diskutiert wurde. Childress stellte dabei seinen seit Ende der 1970er Jahre gemeinsam mit Tom L. Beauchamp entwickelten Ansatz eines „principlism“ vor. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass beide ursprünglich von recht unterschiedlichen ethischen „Großtheorien“, dem Regel-Utilitarismus einerseits und der Deontologie anderseits, ausgingen, ist es bemerkenswert, dass sie auf Basis von „Prinzipien mittlerer Reichweite“ einen gemeinsam Ansatz entwickeln konnten. Dies deutet an, dass es in bereichsspezifischen Ethiken durchaus möglich sein kann, Konsense über Grundprinzipien, Begründungs- und Argumentationsweisen zu erlangen, ohne das Fundament einer ethischen Theorie zu teilen.
Prinzipien mittlerer Reichweite verhalten sich (weitgehend) neutral zu umfassenden ethischen Theorien und sollen nur für einen bestimmten Gegenstandsbereich – in diesem Fall die biomedizinische Ethik – zum Tragen kommen. Die vier von Beauchamp und Childress entwickelten Prinzipen (Autonomie, Wohltun, Nicht-schaden und Gerechtigkeit) sind allgemeiner Natur und werden im Einzelfall spezifiziert. Dabei ist es durchaus möglich, dass sie miteinander in Konflikt geraten, weswegen es zusätzlich erforderlich sein kann, sie gegeneinander abzuwägen.
Dem von Childress vorgestellten Begründungsmodell soll ein kohärentistisches „reflective equilibrium“ zugrundliegen, d.h. die allgemeinen Prinzipien werden sowohl auf den Einzelfall angewendet, aber Einzelfälle können umgekehrt auch dazu beitragen, die Prinzipien zu modifizieren. Begründungen sind also keine „Einbahnstraße“ und gehen nicht von einem letzten Fundament aus.
In der anschließenden Diskussion bezogen sich Einwände und Nachfragen auch insbesondere auf das Spezifizieren und die Frage der Veränderbarkeit von Prinzipien. Bei ersterem bestanden Zweifel, woher man im Einzelfall wisse, ob ein Prinzip „richtig“ spezifiziert wurde und wie mit konkurrierenden Spezifizierungen zu verfahren sei. Childress wies darauf hin, dass in „Principles of Biomedical Ethics“ Kriterien für das angemessene Spezifizieren entwickelt wurden, die diese Problematik eingrenzen, jedoch nicht vollständig zum Verschwinden bringen, so dass im Einzelfall auch die Urteilsfähigkeit der Betroffenen gefragt ist. Hinsichtlich der Veränderbarkeit von Prinzipen gestand Childress zu, dass es in einem kohärentistischen Modell natürlich möglich sein muss, dass Gehalt und Charakter von Prinzipien über die Zeit hinweg Modifikationen unterliegen.