Normtransgressives Verhalten in der Götterwelt des Alten Ägypten
Die gesellschaftlichen Normen des Alten Ägypten sind gut bekannt. Sie lassen sich sowohl aus (auto)biographischen Inschriften, als auch aus den sogenannten Lebenslehren entnehmen und werden als wesentliche Richtschnur für das menschliche Verhalten angesehen. Die Forschung sieht sie vor allem unter dem Etikett "Ma'at" (Recht, Wahrheit, korrekte Weltordnung).
In der ägyptischen Mythologie gibt es jedoch eine Fülle von Gottheiten, die diesen Maßstäben zuwiderhandeln. Zwar ist es in den Mythen der verschiedensten Religionen nicht ungewöhnlich, daß für Götter andere Regeln gelten, als für Menschen. Dies ist in Ägypten jedoch zumindest in der Theorie eher nicht der Fall. Oft handelt es sich nämlich um moralisch verwerfliche Taten, die von den Ägyptern selbst entsprechend gebrandmarkt werden, bzw. in den narrativer ausgearbeiteten Mythenfassungen zeigt die Reaktion der übrigen Götter klar an, wie die betreffende Handlung auch in der Götterwelt gewertet wird. Bemerkenswert ist jedoch, daß es sich bei den "Tätern" keineswegs nur um als "böse" bekannte Gestalten handelt. Vielmehr betreffen solche Vorwürfe auch ansonsten positiv bewertete Gottheiten. Dasselbe Verhalten kann sogar bei einer Gottheit als Fehlverhalten gebrandmarkt werden, bei einer anderen hingegen als Kavaliersdelikt durchgehen. Nur die wenigsten normtransgressiven Götter werden in der religiösen Praxis explizit als feindlich dämonisiert.
Es ist nach den Gründen für dieses Ungleichgewicht zu fragen: Welche Schlüsse über die altägyptische Gesellschaft und ihre Denkweise, sowie über die Funktion von Mythen allgemein innerhalb einer komplexen Kultur wie dem Alten Ägypten lassen sich daraus ziehen? Zur Beantwortung dieser Fragen erstellt das beantragte Projekt zunächst einen Katalog der überhaupt normtransgressiv werdenden Götter. In einem zweiten Schritt wird untersucht, welche Arten von Normtransgressionen in der Götterwelt belegt sind.
Der Umgang der Mythen mit diesen Handlungen wird jeweils verglichen mit den Aussagen realweltlicher Quellen (besonders Rechtstexten) zur Ahndung entsprechender Vergehen in der Menschenwelt. Es wird dann nach Erklärungen für sich gegebenenfalls ergebende Diskrepanzen gesucht.
Bei der Auswertung des Materials spielen auf der mytheninternen Ebene Fragen des Status, des Alters, der Genderordnung etc. eine Rolle, aber auch andere Gesichtspunkte, die sich nicht so simpel unter das Stichwort "Hierarchieverhältnisse" subsumieren lassen, wie etwa die Frage, ob bestimmte Verwandte der Gottheit zum "Tatzeitpunkt" noch als lebend oder bereits verstorben vorgestellt werden.
Mythenextern ist relevant, wie die betreffende Quelle bezüglich ihrer ursprünglichen Entstehungszeit und Verwendungssituation situiert ist, aber auch Fragen der weiteren Überlieferung und endgültigen Anbringung oder Deponierung sind zu berücksichtigen. Letztlich sollen die Mythen als (wenn auch gefilterte) Quelle zu den gesellschaftlichen Verhältnissen ihrer Entstehungskultur ernst genommen werden.