Was sind "Staatsgötter"? Königtum und Kult in Meroe (3. Jh. v. bis 3. Jh. n. Chr.)
Der Beginn der meroitischen Periode des Reiches von Kusch, des südlichen Nachbarn Ägyptens, wird allgemein mit der Verlegung des königlichen Friedhofes von Napata am Jebel Barkal nach Meroe (um 270 v. Chr.) angesetzt. In vielen Bereichen der Kultur ist ein Unterschied zur davor liegenden napatanischen Periode zu erkennen, in der Adaptionen der pharaonischen Bild- und Zeichenwelt eine zentrale Rolle spielten. Bestimmte Eigenheiten in den Bildmedien, besonders der königlichen Ikonographie, die wir seit der 25. Dyn. (der kuschitischen Herrschaft in Ägypten) kennen, bleiben zwar erhalten, auch bestimmen ägyptische Gestaltungsprinzipien nach wie vor die meroitische Kunst. Doch der ägyptische Einfluss wird geringer, Reliefs und Rundplastiken zeigen viel mehr eine stärkere indigene Komponente. Ein hervorstechendes Element dieser Dynamik ist, dass einheimische Gottheiten wie z.B. Apedemak oder Sebiumeker dargestellt werden, die bisher im offiziellen Pantheon nicht vertreten waren. Im beantragten Projekt wird nach dem Verhältnis von Tradition und Innovation in den verschiedenen Bereichen der meroitischen Kultur gefragt, die sich über archäologische Quellen erschließen lassen. Wir haben über unterschiedliche Medien, wie z.B. Bilder (Flach- und Rundbild), Texte (auf Stelen und in Tempelinschriften), religiöse und profane Architektur, Objekte materieller Kultur etc. Zugang zu den unterschiedlichen Feldern der Kultur, zu Gesellschaft, Wirtschaft, Religion, Kulturgeschichte oder politischer Geschichte. Im Hinblick auf das Oberthema des Clusters ist für die Verbindung zwischen Religion und Politik besonders interessant: ist mit dem Auftauchen von neuen, einheimischen Gottheiten auch eine neue politische Strategie verbunden? In welcher Verbindung stehen diese Gottheiten zum meroitischen Königtum? Neue Götter werden nicht nur zusätzlich zu den bekannten (ägyptischen) Göttern im Tempelrelief oder auf Statuen dargestellt und genannt, sondern deren Kultvollzug geschieht in Heiligtümern eines davor nicht belegten Typs. Es werden nun Einraumtempel geschaffen, die sämtliche funktionalen Zonen des Kultes in einem Raum vereinen. Für die aus Ägypten inkorporierten Gottheiten werden auch in der meroitischen Zeit Mehrraumtempel nach ägyptischem Vorbild errichtet, in denen die verschiedenen Abschnitte der Riten in jeweils dafür geschaffenen Räumen stattfinden. Die Frage ist nun, ob sich die Veränderung der religiösen Praxis auch in einer Veränderung der politischen Praxis niederschlägt. Dass in Kusch die Ideologie des Königtums und die davon bestimmte realpolitische Herrschaft anders als in Ägypten funktionierten, ist bereits bekannt. Doch wie ist die Verbindung zur Religion - zu den Handlungen im Kult, dem Tempelbau, den Götternamen und -epitheta, der Ikonographie und den Kontexten von Fundobjekten im sakralen Raum - im Verhältnis zum politischen Handeln und Außenkontakten, insbesondere zur Mittelmeerwelt um die Zeitenwende, einzuschätzen? Wieweit sind hier indigene Traditionen zu erahnen, welche Innovationen kann man erkennen? Ein Schwerpunkt wird die Untersuchung zur Gottheit Apedemak, dem löwenköpfigen Hauptgott des meroitischen Reiches sein. Apedemak ist die in chronologischer wie auch räumlicher Hinsicht am breitesten vertretene Gottheit, sie ist auch inschriftlich am besten belegt. Die Quellen zu Apedemak umfassen „Löwentempel" an verschiedenen Orten, Darstellungen in Relief und Rundplastik, Inschriften und Kleinkunst. Während sein Name und sein Aussehen seit langem bekannt sind, ist die religionspolitische Einordnung immer noch offen. Apedemak scheint der neue „Staatsgott" des meroitischen Reiches gewesen zu sein, wenn auch der ursprünglich aus Ägypten übernommene Amun, der in der napatanischen Periode die Funktion des „Staatsgottes" innehatte, ebenfalls prominent auftritt. Wie allerdings der Zusammenhang zwischen dem ägyptischen Amun und dem meroitischen Apedemak ist, wieweit deren Funktionen komplementär sind oder sich überlappen, ist derzeit noch unbekannt. Insofern muss eine Untersuchung zu Apedemak auch eine intensive Beschäftigung mit dem Gott Amun im meroitischen Reich beinhalten. Bei beiden Gottheiten ist die Verbindung zum Königtum besonders eng, daher bieten sich Apedemak und Amun als Fallstudie zu den geschilderten Fragen an. Hier können die Strategien der Legitimation (Anerkennung), der übernatürlichen Verkörperung des fürsorgenden Landesherrn (Herr des Lebens und der Fruchtbarkeit, wie es in der Königsideologie der irdische Herrscher ist) und des Kriegsführers (Apedemak gilt wegen mancher Attribute als kriegerischer Gott; Amun sendet laut der napatanischen Texte das Heer aus) jeweils auf der sakralisierten und auch realpolitischen Ebene analysiert werden. Mit dieser Fallstudie zu Apedemak als den bedeutendsten Gott der Meroiten und seines Verhältnisses zu Amun ist zugleich die Gelegenheit gegeben, das politische Konzept eines „Reichs"- oder „Staatsgottes" neu zu denken - eine Begrifflichkeit, die in der Ägyptologie unhinterfragt angewendet wird. Gilt Amun als der ägyptische Staatsgott mindestens des Neuen Reiches und der 3. Zwischenzeit, so ist dies für die Spätzeit ungleich schwieriger zu beantworten. Was ist aber nun ein „Reichsgott" bzw. „Staatsgott" im polytheistischen Weltbild und in einer Kultur, in der jeder Gott in verschiedenen Ortsformen und auch überregional präsent ist? Kann man die Idee einer universellen übernatürlichen Entität auf einen „Reichs- bzw. Staatsgott" reduzieren? Mit der differenzierten Betrachtung von Apedemak und Amun, ihrer Position in der Götterwelt und dem spezifischen Verhältnis zum König werden neue Einsichten in die Begriffsgeschichte und die Tragfähigkeit bzw. Pointierung solcher Konzepte erwartet.