Einführungen in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts | |||
| |||
LINKWEG ::: Inhalt / Der Sozialstaat / Historische Paradigmen der Sozialstaatlichkeit / Obligatorische Unfallversicherung in Deutschland / Exkurs: Franz Kafka als Versicherungsjurist |
Obligatorische Unfallversicherung in Deutschland | Glossarverzeichnis |
Der Sozialstaat
3. Historische Paradigmen von Sozialstaatlichkeit
3.1. Obligatorische Sozialversicherung in Deutschland ab den 1880er Jahren
Unfallversicherung 1884
Exkurs: Franz Kafkas Tätigkeit als Versicherungsjurist in Prag um 1910 | |
(ml) Der promovierte Jurist Franz Kafka (1883-1924) arbeitete von 1908 bis zu seiner krankheitsbedingten Pensionierung 1922 bei der 1887 gegründeten Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt (AUVA) für das Königreich Böhmen in Prag, der mit Abstand größten der sieben österreichischen Anstalten dieser Art.
Er war vor allem in der Technischen Abteilung tätig, wo er Rentenansprüche bei Arbeitsunfällen und Einsprüche von Unternehmen gegen die Gefahrenklasseneinteilung ihrer Betriebe zu bearbeiten hatte. Sein Talent für grundlegende Erkenntnisse und sein Interesse an technischen Neuerungen führten dazu, dass er 1910 zum "Konzeptionisten" befördert wurde. Als solcher verfasste er Berichte über die verschiedensten Entwicklungen im Bereich des technischen Fortschritts bei Maschinen und mit ihnen zusammenhängenden Versicherungsfragen.
Unter anderem schrieb er 1910 auf Initiative des Leiters der Anstalt, Dr. Robert Marschner, einen inhaltlich nicht neuen, aber sprachlich über den ungelenken k.k. Amtsstil deutlich sich erhebenden Text über »Unfallverhütungsmaßregeln bei Holzhobelmaschinen«, der im Bericht der AUVA für das Jahr 1909 erschien. Ein weiterer Bericht Kafkas zum Thema erschien im Folgejahr im Jahresbericht für 1910.
Die AUVA war, wie das österreichische
Sozialversicherungswesen insgesamt, mit ihren Aufgaben sowohl was die Ausstattung
mit Personal als auch was dessen Qualifikation anbelangte, den an sie
gestellten Aufgaben kaum gewachsen. Kafka erfuhr dies am eigenen Leibe, als
1910 eine Neueinteilung der Betriebe in Gefahrenklassen vorzunehmen war, die
nach Jahrzehnten systematischer Unterklassifizierung (und dementsprechend zu
niedrigen gezahlten Beiträgen) endlich Gesetz und Realität in Einklang bringen
sollte. Der Bezirk, den Kafka bearbeitete, umfasste die industriellen Zentren
des deutschsprachigen Nordböhmen um Reichenau, Friedland, Rumburg und Gablonz.
Die neue Gefahrenklasseneinteilung führte zu großem Unmut unter den dortigen Unternehmern,
die nicht gewillt waren, höhere Beiträge zu zahlen.
Daher reiste Kafka der
Aufklärung und Beschwichtigung wegen zu einem Vortrag über Aufgabe und Arbeit
der Arbeiterunfallversicherung nach Gablonz, einer insbesondere durch Glas- und
Gürtlereifabriken innerhalb weniger Jahrzehnte stark industrialisierten Stadt.
Während des Vortrags wurde er von Industriellen und Lobbyisten wie Max
Wopperschalek hart angegangen. Wopperschalek war Gürtlerei-Fabrikant,
Gewerbekammerrat und Vorsitzender des wichtigsten lokalen
Unternehmerverbandes sowie Zahlmeister des deutschnationalen "Bundes der
Deutschen in Böhmen". Entsprechend selbstbewusst und bestimmend traten er und
weitere örtliche Honoratioren dem deutlich jüngeren Versicherungskonzipisten
gegenüber auf.
Die Renitenz der Unternehmer, die Kafka nicht nur während seines Vortrags, sondern auch in der täglichen Arbeitspraxis zu spüren bekam, veranlasste ihn im Juni 1911 zu einer über 40-seitigen Eingabe an das k.k. Innenministerium in Wien über nordböhmischen Lobbyismus und seine (negativen) Folgen für die Unfallversicherung.
Literatur: Hans-Gerd Koch / Klaus Wagebach (Bearb.): Kafkas Fabriken (= Marbacher Magazin 100/2002; Marbach 2002).
Obligatorische Unfallversicherung in Deutschland | Glossarverzeichnis |
© 2004 by Ulrich Pfister/Georg Fertig • mail: wisoge@uni-muenster.de |