Ein Hauch von Afrika in Münster
Mit einem leisen Surren öffnen sich die elektrischen Rollschränke und geben den Blick frei auf ihren uralten Inhalt: Zahlreiche fossile Knochen, deren weiße Farbe im Licht der Deckenleuchten nun noch heller erstrahlt. Gezielt zieht Panagiotis Kampouridis, Promovend an der Universität Tübingen, eine der alten Schubläden heraus und greift nach einem spangenförmigen, zahnbewehrten Knochen von der Länge eines menschlichen Unterarms. „Dies ist ein ganz besonderes Objekt! Es ist der Unterkiefer eines ausgestorbenen Nashorns mit dem Namen Chilotherium.“, sagt Kampouridis und ein Lächeln überzieht das Gesicht des Forschers.
Szenenwechsel: die griechische Insel Samos vor 7 Millionen Jahren im Zeitalter des Miozäns. Die Mittagssonne brennt erbarmungslos nieder auf eine weite, nur von wenigen Bauminseln unterbrochene Landschaft. Dazwischen erstreckt sich ein Mosaik aus Gräsern, Sträuchern und kahlen Stellen, entstanden im Wechsel von Regen- und Trockenzeiten eines subtropischen Klimas. Unweit eines Flussbetts schleppt sich ein graues Tier etwa von der Größe eines kleinen Rinds über den staubigen Boden. Das kurzbeinige Tier ähnelt äußerlich einem Nashorn aus dem Afrika des 21. Jahrhunderts, ist jedoch kleiner und trägt keinerlei Hörner auf dem Kopf. Stattdessen ragen zwei merkwürdig anmutende Stoßzähne, ähnlich den Hauern von Schweinen, vorne aus dem Unterkiefer. An dem Flussbett angekommen muss das Tier feststellen, dass kein Wasser mehr zu finden ist und bricht schließlich erschöpft zusammen. Wenige Meter entfernt, im ausgetrockneten Flussbett, ragen aus dem in der Hitze aufreißenden Schlamm weiße Knochen heraus und künden von dem Schicksal des urzeitlichen Nashorns. Der nächste Regenguss wird seine Knochen forttragen und einbetten und damit für die ferne Nachwelt konservieren. Es ist jenes Chilotherium, dessen Überreste Kampouridis 7 Millionen Jahre später studieren wird.
Zurück in der Jetztzeit. Panagiotis Kampouridis legt die Knochen sorgfältig auf ein schwarzes Tuch und scannt sie mit einem Gerät ein. Auf dem Bildschirm des Rechners erscheint allmählich ein räumliches Abbild des Objekts. „Diese Aufnahmen ermöglichen mir, die Knochen dreidimensional betrachten zu können, wann immer ich es brauche.“, sagt der 29-Jährige. Auf sein Forschungsziel angesprochen, packt Kampouridis die für Forschende typische Faszination: „Heute gibt es weltweit fünf Arten von Nashörnern, die zu vier Gattungen gehören. Aus dem späten Miozän von Südosteuropa sind aber allein 10 Arten von der Nashorn-Gattung Chilotherium bekannt. Problematisch ist allerdings, dass einige dieser ausgestorbenen Nashörner noch wenig verstanden sind hinsichtlich ihres Körperbaus, vor allem jenseits des Kopfes.“ Doch auch bei der Lebensweise der Chilotherien gibt es offenbar noch Klärungsbedarf, wie Kampouridis weiter erläutert: „Aufgrund einer gewissen Ähnlichkeit zu Flusspferden nahm man früher an, dass Chilotherium zeitweise im Wasser lebte. Das kann man anhand der in Samos auftretenden Gesteine, die eine Savannenlandschaft dokumentieren, nicht bestätigen.“ Der in Herford geborene Forscher ergänzt: „Nur wenn wir den Bau dieser und anderer Tiere der Vorzeit richtig kennen, können wir die Biodiversität der Vergangenheit und damit auch die Entwicklung unserer heutigen Artenvielfalt wirklich beurteilen.“
Kampouridis lässt seinen Blick die Schrankreihe entlang wandern: „Samos zählt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den klassischen Fossillagerstätten der europäischen Paläontologie und wurde immer wieder systematisch begraben. Viele Belege und neue Arten von Pferden, Giraffen, Elefanten, Nashörnern, Huftieren, Raubtieren und Straußen sind von dort beschrieben, und das Material lagert in vielen Sammlungen großer und kleiner Museen in Europa und Übersee. Das macht die afrikanisch anmutende Lebewelt des Miozäns von Samos nicht nur paläontologisch, sondern auch wissenschaftshistorisch interessant!“.
Warum er für seine Forschungsfrage extra nach Münster gekommen ist? Auch hier hat Kampouridis eine Antwort: „Die Samos-Sammlung des Geomuseums ist eine der größten, mit zahlreichen Holotypen, d. h. Fossilien, an denen Arten definiert wurden. Allerdings ist diese bedeutende Sammlung in der Fachwelt in jüngerer Zeit etwas in Vergessenheit geraten.“, sagt Kampouridis, der seit Kindertagen an Fossilien interessiert ist. „Vieles von dem Material ist noch unpubliziert und mit einiger Wahrscheinlichkeit lagert hier noch die ein oder andere neue Erkenntnis.“ Ein Beispiel für diese Überraschungen ist dem Tübinger Promovend übrigens schon nach kurzer Zeit gelungen: Zwischen den Knochen größerer Säugetiere fiel Kampouridis ein gänzlich anders geformtes Stück auf. Seine Vermutung erlangte durch Diskussion mit einem Kollegen Gewissheit. Es handelt sich um ein Rückenpanzerfragment der bis 2 m großen Landschildkröte Titanochelon schafferi, der erste Nachweis eines Rückenpanzerfragments aus Samos!
Kampouridis wird nun seine Publikationen zu dem Münsteraner Material und weiteren Kollektionen erarbeiten. Auf die Frage nach der wissenschaftlichen Zukunft antwortet der Forscher: „Mich haben die Nashörner einfach gepackt! In Asien gibt es noch jede Menge Belegmaterial, und ich möchte die Chilotherien in ihrer Vielfalt weiter erforschen.“ Mit diesen Worten fährt Kampouridis die Rollschränke wieder zu, doch sicher nicht zum letzten Mal.
Knochen mit bewegter Vergangenheit: Die Münsteraner Samos-Sammlung. Die bis 3.000 Objekte umfassende Samos-Sammlung wurde in den Jahren 1908–1909 durch Theodor Wegner, Privatdozent an der Universität Münster und später Direktor des Geologisch-Paläontologischen Instituts, geborgen. Dass sie auch heute noch im Geomuseum studiert werden kann, verdankt sie u. a. der Auslagerung bei einem Bauern im Münsterland während des Zweiten Weltkriegs. Einen kleinen Vorgeschmack auf die Rinderartigen, Giraffen und Co. führende Sammlung kann man übrigens im Geomuseum erhaschen, in unmittelbarer Nähe des Geokinos.