Mailand, 25. Mai 1942
Eure Heiligkeit!
Anläßlich des 25jährigen Jubiläums erlaube ich mir alleruntertänigst meine herzlichsten Glückwünsche mit dem besonderen Wunsche zu unterbreiten, der Allmächtige möge Eurer Heiligkeit noch viele Jahre zum Wohle der ganzen Menschheit in Gesundheit schenken, ebenso möge der Wunsch, dass ein guter, gerechter und lange dauernder Friede für die ganze Welt komme bald in Erfüllung gehen.
Im Psalm 103 preist König David den Herrn und sagt im Absatz 5: „Er sättigt mit Glück dein Alter, daß deine Jugend sich erneut, wie die des Adlers.“ Möge der Allmächtige dieses Glück auch Eurer Heiligkeit zuteil werden lassen! Zur näheren Information über meine Person gestatte ich mir Nach-[84v] folgendes anzuführen:
Ich bin Rabbiner, 72 Jahre alt, geboren in Boryslaw, Galizien und stamme aus der größten, adeligen, orthodoxen, jüdischen Rabbinerfamilie. Unser Stamm reicht bis zum bekannten „Rambam“ „Rasche“ „Remu“ und „Baal Schem.“ Mein seliger Vater und Großvater waren in der ganzen Welt als „Wunderrabbi“ bekannt. Ich bin hieher geflüchtet mit der Absicht nach Palästina weiterzureisen; leider konnte aber dieser Plan durch die bald darauf eingetretenen Kriegsereignisse nicht durchgeführt werden. Ich mußte mich daher entschließen, mit der Auswanderung nach U.S.A. zu befassen. Auf Grund der eingeleiteten Schritte erhielt ich von meinen Anhängern ein erstklassiges Affidavit. Bald nach Erhalt desselben wurden jedoch die Konsulate gesperrt und alle meine bezüglichen Dokumente an die Amerikani-[85r]sche Gesandtschaft nach Rom gesendet. Nach dem neuen Gesetz vom Juli 1941 muß die Vorgenehmigung jetzt aus Washington erfolgen. Ich bin hier allein stehend, da meine Frau vor 8 Jahren starb und mein Sohn, Mosé Preis recte Lustman, 36 Jahre alt, ledig, mit dem ich flüchtete, ist seit 20 Monaten interniert und derzeit in Campagna Provinz Salerno.
Ich fühle mich hier sehr einsam und elend, bin außerdem der italienischen Sprache nicht mächtig, seit mehreren Jahren herzleidend, habe öfters Herzanfälle und brauche auch bei Nacht häufig eine Hilfe. Die rituelle Kost muß ich mir zuhause selbst herstellen; da mir keine Restauration verläßlich genug ist und der Weg zu einer solchen zu anstrengend für mich wäre.
Bei mir ist es wie König David im Psalm 71, Punkt 9 sagt: „Verwirf mich nicht zur Zeit des Alters; wenn meine Kraft schwindet, verlaß mich nicht!“ Ich stütze mich aber auf den Psalm 121 [85v] Pkt 1 und 2 „Ich erhebe meine Augen zu den Bergen“, von wannen wird mir Hilfe kommen?“ „Meine Hilfe kommt von Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde.“ Eure Heiligkeit betrachte ich als den Abgesandten Gottes und durch Sie wird die Hilfe für mich kommen.
Da mein Sohn mir immer alles besorgt hat, erlaube ich mir die alleruntertänigste Bitte zu unterbreiten, mir gnädigst zu helfen, daß mein Sohn für eine längere Periode oder wenn möglich gänzlich zu mir kommen kann.
Ich wohne bei einer alten Frau, 67 Jahre alt, die oft selbst krank ist und täglich seit 3 Monaten Injektionen bekommt, daher nicht immer in der Lage ist, mir zu helfen. Der behandelnde Stadtarzt sagt, ich muss immer jemanden um mich haben.
Ich gebe der angenehmen Hoffnung Raum, daß Eure Heiligkeit meine Bitte erhören und erfüllen werden, der Dank dafür kommt direkt vom Himmel.
Eurer Heiligkeit ganz untertänigster
Rabbiner Benzion Lustman
Mailand, Via Burigozzo 3
Archivio Apostolico Vaticano, Nuntiatur Italia 63, fasc. 3, fol. 84r-85v