"Wo war die Theologie"?
"Wo war die Theologie, als der Missbrauch endlich öffentlich wurde?" Diese Anklage schallte deutlich durch den Raum, als Karl Haucke, selbst Betroffener sexuellen Missbrauchs, beim Studientag der Katholisch-Theologischen Fakultät zum Thema sexualisierte Gewalt am 26. April 2023 Anfragen an die rund 70 anwesenden Theolog:innen formulierte. Drei Punkte machte er dabei besonders stark: Betroffene sollten in Debatten viel stärker einbezogen und der Klerikalismus dekonstruiert werden. Drittens müsse die Theologie sich dringend mit der Bußtheologie und der Beichtpraxis auseinandersetzen.
Dass sexuelle Gewalt ein zentrales Thema ist, das alle angeht, machte Haucke schon zu Beginn seines Vortrages deutlich. Er habe mal durchgezählt, äußerte er, es seien insgesamt rund 70 Personen im Raum. Jeder siebte habe im Schnitt Erfahrung mit sexueller Gewalt. Das bedeute, so Haucke, es säßen etwa zehn Menschen im Raum, die betroffen seien. Es herrschte betretenes Schweigen bei 140 offenen Ohren.
Zuhören und Ernstnehmen
Zwei Tage beschäftigten sich die teilnehmenden Theolog:innen intensiv mit der Frage, wie Theologie nach der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie des Bistums Münster im vergangenen Juli künftig betrieben werden könne. Dabei war das Programm äußerst vielfältig.
Grundlegend für die Tage waren die Anstöße zur Aufarbeitung durch Betroffene selbst. Schon in der Eröffnung der begleitenden Fotoausstellung "Betroffene zeigen Gesicht" am Abend zuvor kamen drei Betroffene zu Wort, am Mittwochnachmittag hatte Haucke das erste Wort. Das historische Ausmaß sexualisierter Gewalt in der Kirche verdeutlichten im Anschluss die beiden Historiker Prof. Dr. Klaus Große Kracht und Dr. Jürgen Schmiesing als Verantwortliche der jeweiligen Missbrauchsstudien anhand der Bistümer Münster und Osnabrück. Eine wichtige Grundlage in juristischer Perspektive legte der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Philipp Donath.
Diese Anstöße bildeten das Fundament für die Arbeit in den Workshops am Donnerstagvormittag. Unter der Frage „Und wir Theolog:innen?“ näherten sich die Teilnehmer:innen dem Thema in fünf Workshops aus allen Sektionen der Theologie. So erarbeitete beispielsweise die Moraltheologin Julia van der Linde in einem Workshop, wie wir selbst Betroffenen begegnen können: Zuhören und Ernstnehmen waren hier die zentralen Stichpunkte.
Und was können wir in Zukunft tun? Dies war die Leitfrage des Donnerstagnachmittages. Im Fokus standen von theologischer Seite institutionelle Schutzkonzepte sowie Orientierungshilfen für den kirchenrechtlichen Umgang mit sexuellem Missbrauch, vorgestellt durch die Religionspädagogin Dr. Rebekka Burke und den Kirchenrechtler Dr. Thomas Neumann. Der Psychiater Prof. Dr. Thomas Reker gab einen kurzen Überblick über die Definition von Traumata sowie Impulse für einen traumasensiblen Umgang mit Betroffenen, der Kriminologe Prof. Dr. Tillmann Bartsch schloss die Vortragsreihe mit einem kursorischen Überblick über sexualisierte Gewalt aus kriminologischer Perspektive.
Konkretes Handeln nötig
Was ist das Ergebnis dieser intensiven Studientage? Welche weiteren Schritte werden folgen? Wie prägt der Studientag die Theologie künftig konkret?
Die Studientage sind ein erster Schritt dafür zu sorgen, dass die Frage von Haucke „Wo war die Theologie?“ nie wieder gestellt werden muss. Sie haben „tiefe Spuren hinterlassen, die das weitere theologische Denken und Arbeiten an unserer Fakultät beeinflussen werden“, betont Dekan Prof. Dr. Norbert Köster in einem Statement. Dass eine dauerhafte Beschäftigung mit dem Thema in Forschung und Lehre notwendig ist, dass das Thema Macht in seinen verschiedenen Dimensionen stärker in den Blick genommen werden muss, darüber sind sich die Organisator:innen einig. Studiendekan Prof. Dr. Oliver Dyma forderte bei der abschließenden Podiumsdiskussion am Donnerstagabend, der Umgang mit dem Thema „sexualisierte Gewalt“ müsse „Teil des Curriculums“ werden.
Wenn, wie Karl Haucke eingangs deutlich machte, jede:r siebte statistisch von sexualisierter Gewalt betroffen ist, so müssen angehende Priester und Pastoralreferent:innen genauso für dieses Thema sensibilisiert werden wie angehende Lehrer:innen, die an der Katholisch-Theologischen Fakultät ausgebildet werden und die davon ausgehen müssen, dass im Schnitt drei Kinder pro Klasse betroffen sind.
Lesen Sie im Folgenden konkrete Stimmen aus dem Fachbereich zu den Studientagen. Neben Dekan Köster schildern auch die vier Organisator:innen Julia van der Linde, Ludger Hiepel, Dr. Thomas Neumann und Dr. Michael Pfister, was sie persönlich aus den Studientagen mitgenommen haben und zeigen Perspektiven auf, was ihr Fach konkret beitragen kann.
Voraussichtlich Anfang 2024 wird ein Tagungsband zu den Studientagen erscheinen.
Stimmen zum Studientag
Dekan Prof. Dr. Norbert Köster: "Tage haben tiefe Spuren hinterlassen"
Mit den beiden Studientagen hat sich unsere Fakultät Zeit genommen, das Thema Missbrauch nicht nur in einzelnen Lehrveranstaltungen zu bearbeiten, sondern als Ganze darüber mit Betroffenen ins Gespräch zu kommen. Das ist in sehr guter Weise gelungen. Viele Aspekte wurden in den Vorträgen und Workshops differenziert und nachdenklich diskutiert. Ich bin sicher, dass diese Tage bei allen, die daran teilgenommen haben, tiefe Spuren hinterlassen haben, die das weitere theologische Denken und Arbeiten an unserer Fakultät beeinflussen werden.
Ludger Hiepel: "Es gibt biblische Texte, die Missbrauch begünstigen"
Bei den Studientagen ist auch deutlich geworden, dass Prävention und Intervention nicht nur Aufgaben der Theologie sein können, sondern eine Aufgabe der gesamten Universität werden muss. Ein Zitat von Brigitte Braun aus dem Vortrag von Dr. Rebekka Burke bringt es auf den Punkt: „Prävention von sexualisierter Gewalt muss Teil der grundlegenden Absicht pädagogischen Handelns und Querschnittsaufgabe im pädagogischen Alltag sein, unabhängig davon, ob Mathematik gelehrt oder Fußball gespielt wird.“ (Braun, B.: Die Notwendigkeit, Prävention sexualisierter Gewalt zu lehren, oder „Wer erzieht die Erzieher?“ (Karl Marx). In: Wazlawik, Martin et. al. (Hg.): Perspektiven auf sexualisierte Gewalt. (Sexuelle Gewalt und Pädagogik, 5). Wiesbaden 2020, 137). Eine dauerhafte Auseinandersetzung mit dem Thema in Forschung und Lehre ist notwendig – das haben viele Teilnehmende uns zurückgemeldet und das wurde auch bei der abschließenden Podiumsdiskussion ins Wort gebracht.
Als Bibelwissenschaftler ist mir im Hören auf die und beim Lesen der Berichte von Betroffenen besonders deutlich geworden, dass es biblische Texte gibt, die Missbrauch begünstigten. Das ist eine weitere Perspektive in der Exegese. Nicht nur Texte, die u.a. Gewalt schildern, sind problematisch, sondern auch die vermeintlich „guten“ Texte (wie z.B. die Seligpreisungen) sind zur Tatanbahnung herangezogen worden. Hier ist interdisziplinärer Austausch – so wie auf den Studientagen geschehen – wichtig und nötig und auch hier wird die besondere Relevanz deutlich, Betroffenen aufmerksam zuzuhören und ihre Erfahrungen ernst zu nehmen.
Dr. Michael Pfister: "Ein tieferes Verständnis der Vergangenheit leistet einen wichtigen Beitrag für die Präventionsarbeit"
Die Studientage haben konkrete Anregungen und Vorschläge hervorgebracht, wie die wissenschaftliche Theologie an der Aufarbeitung und Prävention von Missbrauch in der Kirche mitarbeiten kann. Dass eine dauerhafte Auseinandersetzung mit dem Thema in Forschung und Lehre notwendig ist und der Theologie als Glaubenswissenschaft gut zu Gesicht steht, haben mir viele Teilnehmende zurückgemeldet. Nun ist es an uns als Fakultät, über weiterführende Schritte nachzudenken. Mich persönlich hat die Begegnung mit den Betroffenenvertreter:innen sehr beeindruckt. Ihre Berichte sollten uns genauso Mahnung sein wie die Ergebnisse der bereits veröffentlichten Missbrauchsstudien, mit denen wir uns beschäftigt haben. Gerade für eine kirchenhistorische Auseinandersetzung mit strukturellen Faktoren und theologischen Konzepten, die Missbrauch begünstigt haben, kann der Austausch enorm helfen – sowohl mit Betroffenen als auch mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Auf diese Weise werden Chancen und Grenzen historischer Aufarbeitung sichtbar. Ein tieferes Verständnis der Vergangenheit leistet schließlich einen wichtigen Beitrag für die Präventionsarbeit heute und morgen.
Julia van der Linde: "Aufgabe der Theologie, Macht in seinen verschiedenen Dimensionen in den Blick nehmen"
Die Studientage haben zunächst die besondere Relevanz verdeutlich, Betroffenen aufmerksam zuzuhören und ihre Erfahrungen ernst zu nehmen. Durch ihre Erzählungen durchbrechen sie das Schweigen über Taten, über die – ginge es nach den Täter:innen – niemals gesprochen werden sollte und geben dem Geschehenen ihre eigene Deutung. Zugleich fordern die Erzählungen ihre Rezipient:innen zum Nachdenken und zur Reflexion auf. Für die Theologie ergibt sich davon ausgehend u. a. die Aufgabe, das Thema Macht in seinen verschiedenen Dimensionen und Kontexten sowie damit verbundene hierarchische Strukturen und Abhängigkeitsverhältnisse stärker in den Blick zu nehmen. Dabei ist es notwendig, sowohl mit Disziplinen außerhalb der Theologie als auch innerhalb der theologischen Fächer interdisziplinär zusammenzuarbeiten. Erst so können Handlungen und ihre teils konträren Deutungen, denen Machtdynamiken und Abhängigkeitsverhältnisse zugrunde liegen, analysiert und einer Aufarbeitung zugänglich gemacht werden. Es ist daran anschließend zudem zu überlegen, in welcher Weise die Themen sexualisierte Gewalt und spiritueller Missbrauch Eingang in die Lehre und damit in die akademische Ausbildung von zukünftigen Seelsorgepersonen, Religionslehrer:innen und kirchlichen Verantwortungsträger:innen finden können.
Dr. Thomas Neumann: "Taten folgen lassen - jetzt!"
Die Vor- und Nachbereitung der Studientage der Katholisch-Theologischen Fakultät „Im Schatten der Institution“ ist ein Lernprozess. Die wohl wesentlichste Erkenntnis daraus: Bekenntnisse (confessiones) mit staatstragenden Worten reichen nicht aus, ja sie tangieren eher peripher den Kern der Sache. Der Kern der Sache ist nicht etwas Abstraktes, analytisch Bestimmbares, sondern das konkrete und unermessliche Leid der Betroffenen. Dies in Worte zu fassen kommt allein denen zu, die Opfer der grausamen Verbrechen sind. Wir dürfen und können nicht über „Die“ sprechen, sondern müssen uns ihrem Angesicht stellen und den Dialog mit unseren Mitmenschen auf Augenhöhe führen. Ebenso sind es nicht „die Täter und Täterinnen da“, sondern jede und jeder trägt Verantwortung. Unser Leben muss am Bekenntnis (confessio) ausgerichtet werden. Schützen können wir nur, wenn wir auf die zu Schützenden hören, wenn wir unser Leben am Bekenntnis ausrichten, dass es sexuellen Missbrauch in der Kirche gibt und immer geben wird.
Und die erste Konsequenz aus dem Lernprozess: Es ist multiperspektivisch herausfordernd aber unumgänglich, sexualisierte Gewalt in das Zentrum theologischen Denkens zu rücken. Wir müssen den Bekenntnissen Taten folgen lassen – jetzt!