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Johannes Brahms Drei Quartette op. 64 – An die Heimat
Als Norddeutscher im Wiener Exil: Ein großer Kulturschock und für den Hamburger Johannes Brahms wohl eine einschneidende Erfahrung. Das Heimweh überwältigte ihn so sehr, dass er an einem einsamen Weihnachtsabend 1863 die Sehnsucht nach der heimischen Küste in Musik goss: „Heimat“ seufzt der Chor unisono und leitet damit seinen Quartettzyklus op. 64 ein, „Heimat, wunderbar tönendes Wort“. Dabei erliegt Brahms aber nicht der Versuchung des Kitschs:
Das zugrundeliegende Gedicht „An die Heimat“ von Sternau würde man mit seinem sentimentalen Ton als typischen schwelgerischen Männerchor erwarten, stattdessen zeigt Brahms im kunstfertigen Zusammenspiel von Chor und Klavier seine kammermusikalische Meisterschaft, die die 3 Strophen des Gedichts zu einer festlichen Motette verbindet. Die Heimat findet Brahms im Lied, in der Musik: „heimatlich lockende Klänge, nur du allein bist die Ruh“.
Das zweite Lied des Zyklus‘ „Der Abend“ schrieb Brahms 10 Jahre später, bei einem Sommeraufenthalt am Zürcher See. Die Ruhe eines Sommerabends durchfließt das Lied, die Hitze und Geschäftigkeit des Tages kommt zum Erliegen. Den hohen mythologischen Ton des Gedichts Schillers, das den halben griechischen Götterpantheon heraufbeschwört, konterkariert Brahms durch die schlichte musikalische Gestaltung, die sich ganz auf die innere Empfindung konzentriert: „Ruhet und Liebet!“
Max Reger: Drei Chöre op. 6
Bei Familie Reger herrschte große Sorge – da hatte man den jungen 17-jährigen Spross Max noch mit großem Stolz aus der bayerischen Provinz an das Wiesbadener Konservatorium geschickt, sah seiner glanzvollen Karriere entgegen, musste aber den Briefen seines Kompositionslehrers Riemann dann entnehmen, dass sein hochbegabter Schüler in Gefahr war, der Großstadt zum Opfer zu fallen. Und das trotz bester Veranlagung und katholischer Erziehung. Er rauchte, las Nietzsche, verkehrte fast ausnahmslos mit Protestanten, und das schlimmste war: Er trank statt Bier („Was ist das Bier doch für ein gemeines Gesöff“) nur noch Wein.
Das Bohème-Leben hatte Reger fest im Griff. Als freier Künstler blickte man selbstverständlich auf die konformen jungen Adelssöhne und reichen Unternehmer, die das wilhelminische Wiesbaden bevölkerten, herab. Statt Pickelhaube trug man im Gedenken an italienische Freiheitskämpfer riesige Hüte. Es galt auf den Spuren des Schiller’schen Idealismus das eigene Leben durch die freie Kunst zu veredeln, ein Anspruch, der Reger als Erben der Romantik ein Leben lang begleitete.
Die Sorgen der Eltern konnte Reger aber durch seine außergewöhnlichen Werke zerstreuen, dass „der Reger einmal ein bedeutender Kerl werden wird“, war sich sein Lehrer sicher. Unter den Frühwerken sticht sein op. 6 hervor, Regers erstes Chorwerk. Es zeigt, wie sehr Reger die Ansprüche seines Mentors verinnerlicht hatte, für den deutsche Polyphonie als höchste Form der Musik galt. Mit seiner ernsten Kunstauffassung stieß er bei seinen Studienkollegen aber auf Unverständnis: „Der Reger komponiert nicht, sondern berechnet“. Aber gerade seine „Drei Chöre“ zeigen, dass sich Formstrenge und schwärmerischer Ausdruck nicht ausschließen müssen.
Passenderweise attestierte die Kritik dem Werk „ein ganz und gar Brahms’sches Gepräge“ und lobte „ein romantisches Hell-Dunkel (…), dessen Wirkung das begleitende Klavier vortrefflich zu heben weiss.“ Mit seinen kühnen Harmonien zeigte sich Reger als Komponist, der zwar an Brahms geschult wurde, aber schon früh auf eigenen Beinen stehen konnte. Notorisch knapp bei Kasse, finanzierte sein op. 6 ihm die Fahrt in den Sommerurlaub.
Johannes Brahms: Vier Quartette op. 92 – O schöne Nacht
Auch wenn er sich anfangs gesträubt hatte – spätestens 1871 war Brahms dem Charme der Donaumetropole erlegen und hatte Wien zu seiner neuen Heimat gemacht. Hier, in Beethovens Stadt, spürte er an jeder Ecke das Erbe des musikalischen Giganten. Aber vielleicht legte gerade das die nötigen kreativen Energien frei, um sich aus seinem Schatten zu befreien und endlich die Sinfonien komponieren zu können, um die er so lange im Anschluss an Beethoven gerungen hatte.
Parallel zu den vier großen Sinfonien Brahms‘ entstanden die einzelnen Chorsätze aus op. 92, denen die Ruhe eines gereiften Komponisten anzumerken ist, der sich musikalisch gefunden hat. Op. 92 erscheint deutlich introvertierter als op. 64, wie eine einzige Nocturne. In seiner neuen Heimat haderte Brahms nur mit so mancher moralischer Engstirnigkeit der Aristokraten. Auch nur Andeutungen amouröser Abenteuer waren seinen Mäzenen zu viel. Das sei nur etwas für die vulgäre Landbevölkerung und nicht sittsam für die Kunst, musste sich Brahms anhören.
Bei der Komposition von „O schöne Nacht“, dem Eröffnungsstück seines op. 92, waren ihm aber tatsächlich wieder empörende Indiskretionen unterlaufen: „Der Knabe schleicht zu seiner Liebsten sacht“, lässt uns der Chor wissen. Von seiner eigenen Kühnheit überrascht, notierte Brahms selbstkritisch auf dem Manuskript: „Halt, lieber Johannes, was machst du! Von solchen Sachen darf man höchstens im Volkston reden, den hast du leider wieder vergessen! Nur ein Bauer darf fragen ob er bleiben darf oder gehen soll – Du bist leider kein Bauer! Kränke nicht das holde Haupt, von goldner Pracht umflossen – machs kurz, sage einfach nochmals: O schöne Nacht!“
Abbitte leistet das zweite Stück „Spätherbst“, das den liebestollen Knaben im düsteren Herbstnebel zurücklässt. Spannungsvoll wird das Tropfen des Nebels in hinabgleitenden Verzierungen in immer neuen harmonischen Varianten hörbar. Das „Abendlied“ kehrt wieder zu der warmen nächtlichen Stimmung des ersten Chorsatzes zurück. Ohne dass sich das Tempo verändert, lässt Brahms den Chor am Ende in seligen Schlaf fallen: „kommt mir das Leben/ganz wie ein Schlummerlied vor“. Aus diesem schreckt er aber mit der titelgeben-den drängenden Frage „Warum?“ des letzen Stücks wieder auf.
Felix Mendelssohn – Elias
Mendelssohns „Elias“ gehört zu den großen romantischen Oratorien. Ist einmal nicht die gesamte Stärke des großen Chores gefragt, weil die Intimität der Gottesbeziehung thematisiert wird, greift Mendelssohn auf eine reduzierte Besetzung zurück. Diese Stücke setzten den Schlusspunkt des heutigen Konzerts und geben gleichzeitig einen Ausblick auf die Aufführung des gesamten Oratoriums durch den Unichor Münster und das Ensemble 22: Am 22.6. um 18:00 Uhr in St. Bonifatius Lingen und am 23.6. um 18:00 Uhr in der Kreuzkirche Münster. Herzliche Einladung!