Ringvorlesung "Geschichte oder Mythos?"

Alternative Theorien zur Entstehung des Alten Testaments, des Neuen Testaments und zur Geschichte des Frühislam

Wintersemester 2008/2009

Projekte Gewissheit

Im Wintersemester 2008/2009 hält der
Lehrstuhl für Religion des Islam in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Orthodoxe Theologie eine Ringvorlesung zur Frage: "Geschichte oder Mythos? - Alternative Theorien zum Alten Testament, Neuen Testament und zur Geschichte des Frühislam".

Forschungsgegenstand
Durch die moderne historisch-kritische Forschung hat sich das Verständnis von Religion verändert. Die Grundlagen von Judentum, Christentum und Islam können nicht mehr auf die Art und Weise betrachtet werden, wie dies unter Theologen lange Zeit üblich war. Religionen und ihre heiligen Texte haben eine Entstehungsgeschichte, die zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung geworden ist. Dabei haben sich zahlreiche unterschiedliche Theorien entwickelt. Die herrschende Meinung bezüglich des Alten Testaments, des Neuen Testaments und der Geschichte des Frühislams anerkennt einen historischen Kern in den entsprechenden religiösen Überlieferungen, dessen Umfang höchst umstritten ist. Diese Mehrheitsmeinung sieht in den religiösen Überlieferungen die Reflexion bestimmter historischer Ereignisse, die im Laufe eines langen Überlieferungsprozesses in unterschiedlich starkem Maße mit Mythen und Legenden verschmolzen wurden.

Es gab und gibt jedoch auch Wissenschaftler, die der religiösen Überlieferung mit einer radikalen Skepsis gegenüberstehen und einen historischen Kern bezweifeln oder negieren. Bezüglich des Alten Testaments hat sich hierfür die Bezeichnung "Biblischer Minimalismus" herausgebildet, bezüglich des Neuen Testaments und der Entstehung des Christentums die Bezeichnung "Radikalkritik" und bezüglich der Entstehungsgeschichte des Islam die Bezeichnung "Revisionismus".

Altes Testament
Die Erforschung des Alten Testaments ist seit jeher neben der kritischen Arbeit mit dem Text sehr eng mit der Archäologie verbunden. Dabei hat sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Ergebnisse der archäologischen Forschung die Angaben der alttestamentarischen Texte nicht belegen, sondern diese vielfach deutlich widerlegen. Die Ergebnisse der Archäologie in Verbindung mit Textkritik haben die als Vertreter des "Biblischen Minimalismus" bekannten Wissenschaftler zu der Schlussfolgerung geführt, dass den zentralen Erzählungen des Alten Testaments kein oder nur ein minimaler historischer Kern zugrunde liegt. Die Zeit der Patriarchen, der Exodus, die Zeit der Richter und das Königreich Davids und Salomons sind unhistorisch, wie auch die damit verbundenen Personen. Selbst das babylonische Exil wird als Gründungsmythos und nicht als historische Wahrheit betrachtet. Die Entstehungsgeschichte des Alten Testaments wird von diesen Forschern in der Persischen oder der Hellenistischen Periode angesetzt und als ein relativ kurzer zeitlicher Prozess verstanden.

Neues Testament
Im Bereich des Neuen Testaments fand man stets eine Mindermeinung vor, die die Existenz eines historischen Jesus geleugnet hat. Diese Meinung ist sowohl innerhalb als auch außerhalb der christlichen Theologie vertreten worden. In Deutschland ist sie insbesondere mit den Namen des Philosophen Arthur Drews, sowie der protestantischen Theologen Albert Kalthoff und Hermann Raschke verbunden. Zweifel an der Geschichtlichkeit Jesu ergeben sich etwa aus dem Fehlen außerbiblischer Zeugnisse für ihn, sowie aus der Art seiner Beschreibung in den Texten des Neuen Testaments und der sonstigen frühchristlichen Literatur. Während die Briefliteratur des Neuen Testaments an einer Biographie Jesu nicht interessiert ist, ist die von den Evangelien gelieferte Biographie angelehnt an das Alte Testament und die bekannten Mythen anderer sterbender und auferstehender Gottessöhne. Für die frühchristliche Literatur innerhalb wie außerhalb des Neuen Testaments ist Jesus Erlöser, Gottessohn und Logos. Die Radikalkritik sieht am Beginn des Christentums aber nicht wie die herrschende Meinung einen Menschen, der vergöttlicht wurde, sondern einen mythischen Gottessohn, eine mythische Erlösergestalt.

Islam
Was die Entstehungsgeschichte des Islam betrifft, so wird von den Revisionisten die Verlässlichkeit der islamischen Überlieferung sehr viel stärker bezweifelt als von der herrschenden Lehre. Zweifel an der islamischen Version der Geschichte des Frühislam auch in ihrem Kern ergeben sich aus zahlreichen Widersprüchen und Ungereimtheiten in den islamischen Quellen sowie der Tatsache, dass aus den ersten beiden Jahrhunderten islamischer Zeitrechnung kaum islamische Quellen existieren. Darüber hinaus werfen auch die archäologische Faktenlage und die Darstellung der Situation der Entstehungszeit des Islam in nichtmuslimischen Quellen zahlreiche Fragen auf.

Die Revisionisten gehen von einem längeren Entstehungsprozess des Islam aus, nicht von einer bereits weitgehend durch Muhammad erfolgten Festlegung der islamischen Lehre wie sie später bekannt wurde. Manche Forscher gehen dabei so weit, die Geschichtlichkeit Muhammads zu negieren und sehen in ihm nur den Protagonisten des Gründungsmythos einer im Zuge der Entstehung eines arabischen Reiches sich neu bildenden und von ihren jüdisch-christlichen Wurzeln immer mehr abspaltenden eigenständigen Religion.

Allen Alternativtheorien gemein ist somit eine sehr weitgehende Skepsis gegenüber dem Wert religiöser Überlieferungsliteratur als Geschichtsquelle. Es wird in dieser Literatur Heilsgeschichte gesehen, die die Herkunft eigener religiöser Ideen erklären und auf Gott zurückführen, sowie den Platz der eigenen Gemeinschaft in der Welt und der Weltgeschichte definieren soll. Der Sinn dieser Literatur besteht nicht in der Vermittlung von Geschichte, sondern in einer durch Mythen plastisch gemachten Darstellung von Theologie. Während also den Vertretern der herrschenden Meinung nach Abzug aller Wundergeschichten und aus sonstigen Gründen unmöglicher Angaben ein historischer Kern als gesichert erscheint, negieren die Anhänger alternativer Theorien die Existenz eines solchen Kerns oder reduzieren ihn zur völligen Bedeutungslosigkeit.
Die Wintersemester-Ringvorlesung "Geschichte oder Mythos?" bot den Vertretern dieser alternativen Theorien ein Forum, ihre Ansätze in der Öffentlichkeit vorzustellen und in einen Dialog mit Vertretern der Mehrheitsmeinung zu treten.

Ablauf der Ringvorlesung:
Inhaltlich ist die Veranstaltungsreihe in drei Blöcke eingeteilt: Altes Testament, Neues Testament und Frühgeschichte des Islams. Zu jedem dieser Blöcke werden verschiedene Abendvorträge angeboten sowie jeweils ein Samstagssymposium mit Podiumsdiskussion. Die Symposien wiederum bestehen aus jeweils zwei Vorträgen und einer anschließenden Podiumsdiskussion mit den Vertretern der Mehrheitsmeinung. Die beiden englisch-sprachigen Symposien zum Alten und Neuen Testament werden simultan gedolmetscht. Die gesamte Veranstaltung ist für die Öffentlichkeit zugänglich.



Die Referenten und Themen im Überblick:

Ringvorlesung Altes Testament


Prof. Dr. Philipp Davies, Sheffield:
"When did Judah become Israel?"

Symposium Altes Testament


Prof. Dr. Niels Peter Lemche, Kopenhagen:
"How Christianity stole the World"

Prof. Dr. Thomas Thompson, Kopenhagen:
"Without Evidence or Method: An Obituary for Biblical Archaeology and Historical Criticism"

Podiumsdiskussion mit Prof. Dr. Rainer Albertz, Münster und Prof. Dr. Eckhart Otto, München

Ringvorlesung Neues Testament

Prof. Dr. Frank Zindler, Herausgeber des amerikanischen Magazins American Atheist, Cranford:
"Christian Origins: Problems and Questions"

Prof. Dr. R. Joseph Hoffmann, Center for Inquiry, Amherst (leider ausgefallen):
"The Marcionite Myth and the Unhistorical Jesus"

Symposium Neues Testament


Prof. Dr. Robert M. Price, Theologisches Seminar Miami Gardens (leider ausgefallen):
"The Pre-Christian 'Jesus Cult' Revisited"

Peter Gandy, M.A., freier Publizist, London:
"Is the Jesus Story a Myth Derived from Paganism?"

Podiumsdiskussion mit Prof. Dr. Gerd Lüdemann, Göttingen

Ringvorlesung Islam

Prof. Dr. Sven Kalisch, Münster:
"Die Mutter ihres Vaters – Fatima, die frühislamische Gnosis und die Frage nach dem historischen Muhammad"

Prof. Dr. Lawrence Conrad, Hamburg (leider ausgefallen):
"How Dark are the Dark Beginnings? – A Historian’s Thoughts on the Study of Early Islam"

Prof. Dr. Gerald Hawting, School of Oriental and African Studies, London:
"Event or Process? Perspectives on the Emergence of Islam"

Symposium Islam

Prof. Dr. Karl-Heinz Ohlig, Saarbrücken: 
"Christliche Zeugnisse aus den ersten beiden islamischen Jahrhunderten zum Islam"

Volker Popp, Numismatiker, Saarbrücken:
"Wann verschwand das Kreuz aus der frühislamischen Ikonographie?"

Podiumsdiskussion mit Michael Marx, M.A. (Corpus Coranicum), Berlin und Prof. Dr. Stephan Wild, Bonn