Wenn zwei sich streiten, freut sich die Dritte

© Julia Windmüller

Wissenschaftler können sich über seltsame Dinge streiten: Der eine sagt: „Die Essigsäure-Moleküle im Chitosan sind zufällig verteilt!“, der andere sagt: „Nein, in Blöcken!“. Und darüber streiten sie sich, jeder mit seiner Anhängerschaft, in aller Öffentlichkeit, Jahrzehnte-lang. Prominent zuletzt auf einer großen internationalen Chitin/Chitosan-Tagung in Sevilla, wo Prof. Bruno Moerschbacher vom Institut für Biologie und Biotechnologie der Pflanzen an der Universität Münster, und damals gerade frisch gewählter Präsident der Europäischen Chitin-Gesellschaft EUCHIS, seinen Vortrag mit der Feststellung begann, alle derzeit kommerziell erhältlichen Chitosane wiesen eine zufällige Verteilung der Essigsäuremoleküle auf, nur die von seiner Arbeitsgruppe biotechnologisch hergestellten eine blockweise - während nur Minuten später Dr. Mats Andersson, der Gründer der Firma Flexichem in Schweden, seinen Vortrag mit der Feststellung begann, alle kommerziell erhältlichen Chitosane hätten eine blockweise Verteilung der Essigsäuremoleküle, nur die von ihm hergestellten eine rein zufällige. Die Diskussion wurde hitzig, führte aber zu keiner Einigung. Und jetzt kommt eine junge Wissenschaftlerin daher und beweist mal eben, dass beide Parteien unrecht haben: „Sie sind im Gegenteil überraschend gleichmäßig verteilt!“ Und sie publiziert ihre Ergebnisse in der hoch renommierten Zeitschrift „Nature Communications“.

Worum geht es? Chitosane sind lange Kettenmoleküle, sogenannte Biopolymere, aus vielen Zuckermolekülen, von denen einige ein Essigsäuremolekül tragen, andere nicht. Chitosane sind in der Natur selten und kommen - so glaubt die Wissenschaft bisher, aber wartet es ab! - nur bei einigen Pilzen, den Jochpilzen, in ihrer Zellwand vor. Aber ähnliche Biopolymere, bei denen jedes Zuckermolekül ein Essigsäuremolekül trägt, sind in der Natur sehr häufig: sie heißen Chitin. Chitin kommt in den Zellwänden praktisch aller Pilze vor, aber auch in den Panzern von Krabben und Krebsen, Insekten und Spinnen und in vielen anderen wirbellosen Tieren. Chitin kann man deshalb gut aus Krabbenschalen isolieren, die in riesigen Mengen in der Fischerei-Industrie anfallen. Und dann kann man mit einer chemischen Behandlung ein paar der Essigsäuremoleküle entfernen, voilà: Chitosan!

Wenn man mehr oder weniger Essigsäuremoleküle wegnimmt, bekommt man verschiedene Chitosane. Und die haben ungewöhnliche Eigenschaften und interessante biologische Aktivitäten. Einige Chitosane sind antimikrobiell wirksam, andere pflanzenstärkend, wieder andere wundheilend. Dafür ist es wichtig, dass die langen Ketten, die Polymere, vor Ort, also im jeweiligen Zielorganismus, in kürzere Ketten, Oligomere, gespalten werden - denn es sind offenbar diese Oligomere, die für die Bioaktivitäten verantwortlich sind. Die können aus unterschiedlich vielen Zuckermolekülen mit unterschiedlich vielen Essigsäuremolekülen bestehen, und die Essigsäuremoleküle können auch noch unterschiedlich verteilt sein. So gibt es z.B. 16 verschiedene Oligomere aus genau vier Zuckermolekülen mit null bis vier Essigsäuremolekülen, 32 verschiedene aus genau fünf und 64 aus genau sechs Zuckermolekülen, u.s.w. - eine fast unendliche Vielfalt! Und wahrscheinlich gibt es für jede Bioaktivität bestimmte Oligomere, die entscheidend sind, während andere inaktiv sind oder sogar die aktiven hemmen. Und welche Oligomere bei der Kettenspaltung der Polymere entstehen, aktive oder inaktive, hängt davon ab, wie die Essigsäuremoleküle im Polymer verteilt sind, und wie das jeweilige Enzym, das die Spaltung durchführt, auf das Vorhandensein oder das Fehlen dieser Essigsäuremoleküle reagiert. Man muss also genau das richtige Chitosan-Polymer mit der richtigen Verteilung an Essigsäuremolekülen verwenden, damit im jeweiligen Zielorganismus dessen Chitosan-spaltenden Enzyme die gewünschten bioaktiven, nicht aber die unerwünschten, hemmenden Chitosan-Oligomere herstellen.

Und jetzt kommt’s: Obwohl diese chemische Methode der Chitosan-Herstellung aus Chitin schon ein Jahrhundert alt ist, ist bis heute unklar, wie sie funktioniert und was genau dabei entsteht! Das liegt daran, dass das Chitin anfangs unlöslich ist, während der Reaktion aber zum löslichen Chitosan wird. Es handelt sich um eine sogenannte heterogene Reaktion, in der die Chitosan-Bröckchen nach und nach, von außen nach innen, zu Chitosan umgewandelt werden. Je nachdem, wie lange man die Reaktion unter welchen Reaktionsbedingungen ablaufen lässt, entstehen dabei verschiedene Mischungen von unterschiedlich stark deacetylierten, also von Essigsäure befreiten Chitosanen. Manche Wissenschaftler argumentieren, dass die Teile der Chitin-Ketten, die weiter außen liegen, schon deacetyliert werden, während andere Teile derselben Ketten, die stärker ins Zentrum der Bröckchen ragen, noch komplett acetyliert bleiben. So würden in den Ketten Blöcke von Zuckermolekülen ohne und andere Blöcke mit Essigsäure entstehen. Andere Wissenschaftler meinen, bei dem Prozess würden diejenigen Chitin-Polymere, die weiter außen liegen, stärker deacetyliert als die weiter innenliegenden, die erst später im Laufe der Reaktion mit der Reaktionslösung in Kontakt kommen. Demzufolge würden sich die Chitosan-Ketten am Ende zwar in ihrem Acetylierungsgrad, also dem Prozentsatz noch Essigsäure-tragender Zuckereinheiten, unterscheiden, die Verteilung der Essigsäuremoleküle sei aber in allen Ketten rein zufällig, denn die chemische Reaktion der Deacetylierung ist ein stochastischer Zufallsprozess. Ja was jetzt: Blöcke oder zufällig?

Darüber kann man trefflich streiten, solange es keine guten Analysemethoden gibt, um die Verteilung der Essigsäure-Moleküle zu ermitteln. Unser Kollege Prof. Kjell Vårum aus Norwegen hat schon vor Jahrzehnten eine Methode für diese Analyse entwickelt, aber sie ist schwer zu interpretieren, und sie konnte die Diskussion letztlich nicht befrieden. Interessanterweise berufen beide Parteien sich auf die Autorität von Kjell! In den letzten Jahren hat Dr. Stefan Cord-Landwehr in Münster neue Methoden für die Chitosan-Analytik entwickelt: enzymatisch-massenspektrometrisches Fingerprinting von Chitosanen, das viel detailliertere Einblicke erlaubt. Und seine Doktorandin Margareta Hellmann hat diese Methoden jetzt für eine sehr systematische Analyse einer großen Zahl an Chitosanen, die unter verschiedenen Reaktionsbedingungen hergestellt wurden, genutzt. Und überraschende Ergebnisse erhalten. Es wurde recht schnell klar, dass die traditionell hergestellten Chitosane weder eine zufällige noch eine blockweise Verteilung der Essigsäuremoleküle aufweisen! Aber es bedurfte noch einiger Kreativität, zahlreicher Diskussionen mit Spezialisten wie Prof. Laurent David, neuer, nach Margaretas Wünschen von Dr. Stéphane Trombotto und Dr. Dominique Gillet hergestellter Chitosane und zusätzlicher Versuche mit besonderen Enzymen, die von Sonja Raetz im Rahmen ihrer Masterarbeit durchgeführt wurden, bevor sich langsam herauskristallisierte, dass traditionell hergestellte Chitosane - und das sind praktisch alle kommerziell erhältlichen - überproportional häufig an jedem dritten Zuckermolekül eine Essigsäure tragen. Aber wie kann das sein? Um das zu verstehen, musste Margareta viel lesen und Computermodelle für die Deacetylierungs-Reaktion entwickeln, bevor sie eine Hypothese aufstellen konnte. Die haben wir jetzt gemeinsam prominent veröffentlicht - und sind gespannt, was die Kolleg*innen und Streithähne der Vergangenheit dazu sagen!

Und bevor du fragst: ja, das ist wichtig! Weil - erinnere dich! - die Verteilung der Essigsäuremoleküle darüber entscheidet, welche Oligomere im Zielorganismus entstehen. Wenn ich eine Pflanze mit Chitosan besprühe, um ihr Immunsystem zu aktivieren, so dass sie sich besser gegen Krankheitserreger wehren und besser mit Stresssituationen wie Hitze oder Dürre fertig werden kann, dann muss ich das richtige Chitosan mit der richtigen Verteilung an Essigsäuremolekülen verwenden, so dass die pflanzlichen Enzyme daraus die pflanzenstärkenden Chitosan-Oligomere herstellen können. Und wenn ich einen Wundverband aus Chitosan herstellen will, unter dem selbst großflächige Verbrennungen dritten Grades ohne Narbenbildung ausheilen können, auch dann ist die Wahl des richtigen Chitosans entscheidend. Für die Pflanzen hat das schon gut funktioniert: wir - das sind unsere ehemaligen Doktorand*innen Dr. Sruthi Sreekumar und Dr. Carolin Richter sowie Dr. Anne Vortkamp und Dr. Philipp Lemke mit Unterstützung von Prof. Bruno Moerschbacher - sind gerade dabei, diese neuen und andere Erkenntnisse aus unseren über dreißig Jahren Chitosan-Forschung für die Gründung von Biotech Start-ups zu nutzen. So wollen wir unsere Grundlagenforschung für die Entwicklung von Agri-Biologika einsetzen, die für eine zuverlässige Produktion hochwertiger Lebensmittel in einer nachhaltigen Landwirtschaft dringend benötigt werden. Bei den Wundverbänden sind wir noch nicht so weit. Aber Margareta hat auch die drei menschlichen Enzyme, die Chitosan-Ketten spalten können, im Detail untersucht - das wird ihre nächste Veröffentlichung. Und gemeinsam mit unserem Kollegen Dr. Christian Gorzelanny vom Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg hat sie im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms Codeχ ein Projekt bewilligt bekommen, um als Post-Doktorandin in unserer Gruppe an dieser Frage weiter zu arbeiten. Im Codeχ-Programm arbeiten derzeit ein Dutzend Forschungsgruppen in Deutschland an der Entschlüsselung des Chitosan-Codes, also daran, den Einfluss des Acetylierungsmusters von Chitosanen auf deren Materialeigenschaften und biologische Aktivitäten zu verstehen - und dann auch zu nutzen. Spannende Zeiten.

Links zu dieser Meldung
https://www.uni-muenster.de/Biologie.IBBP/agmoerschbacher/index.html
https://www.nature.com/articles/s41467-024-50857-1
https://codechi.de/