Zufallsfund in der ULB
Eine Verkettung glücklicher Zufälle und Forschergeist waren der Schlüssel zum studentischen Erfolg: Geschichtsstudierende der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) haben in einem Seminar zur Handschriftenkunde inmitten mittelalterlicher Texte einen Zufallsfund gemacht. Konkret handele es sich um eine 500 Jahre alte, bislang unbekannte Version des "Liber Rubeus", des "roten Buches" des Stifts Sankt Mauritz, berichtet Mittelalterhistorikerin und Juniorprofessorin Dr. Sita Steckel. Zudem: "Dieses noch kaum erforschte Exemplar eines mittelalterlichen Amtsbuchs aus Münster galt seit dem Zweiten Weltkrieg als verschollen."
Ausgangspunkt der Nachwuchsforscher war eine projektorientierte Lehrveranstaltung in der Universitäts- und Landesbibliothek (ULB), die Sita Steckel vom Historischen Seminar der WWU leitete. "Es sollte eigentlich nur eine Leseübung für mittelalterliche Texte werden, um die mich eine Handvoll fortgeschrittener Studierender gebeten hatte", erinnert sie sich. Um den Studierenden die Grundkenntnisse der Handschriftenkunde nicht nur passiv zu vermitteln, wurden Feldstudien in Archiven, Lesesälen und Bibliotheken eingebaut. Die Studierenden suchten sich dann selbstständig mittelalterliche Texte heraus.
Sita Steckel wusste auch um Handschriften-Neuankäufe der ULB seit 1996, die bislang oftmals unerforscht waren: "Es lag nahe, wissbegierige Studierende zur Erforschung dieses unbekannten Terrains zu ermutigen." Besagtes umfängliches Amtsbuch aus dem 15. Jahrhundert, das die Studierenden zu Übungszwecken zur Hand nahmen und dessen erste Seite auf das münstersche Stift St. Mauritz verweist, offenbarte einige überraschende Erkenntnisse.
Willem Fiene, Lars-Steffen Meier und Hendrik Scholten, drei der Geschichtsstudenten, gelang es prompt, den Codex so weit zu entziffern, dass er sich zuordnen ließ: Es handelt sich, wie sie feststellten, um ein 1493 angelegtes Amtsbuch mit wichtigen Dokumenten wie Kauf- und Pachtverträgen. Dass es mehrere Exemplare des Buches gab, war zwar in der Forschung bekannt. Die aber nun in der ULB entdeckte Handschrift hielt man seit dem Zweiten Weltkrieg für verschollen. Aus zusätzlichen Dokumenten im neu identifizierten Exemplar, erzählt Willem Fiene, gehe einiges Interessante hervor: "Es wird zum Beispiel deutlich sichtbar, wie im Mittelalter Unterlagen organisiert und durch Verzeichnisse erschlossen wurden." Eine weitere Erforschung könnte somit neue Erkenntnisse über den Umgang mit Archiven im mittelalterlichen Münster beitragen, glaubt Sita Steckel.
Dass es zu diesem Zufallsfund im Handschriftenlesesaal in der ULB kam, freut auch Jürgen Lenzing, Mitarbeiter des Dezernats Historische Bestände. Die ULB besitze trotz schwerer Kriegsschäden mehr als einhundert mittelalterliche Handschriften. Als Landesbibliothek hat sie die Aufgabe, den Bestand zu erschließen und erhalten – und ist so für Forschung und Lehre eine wichtige Anlaufstelle: "Es besteht bei uns immer die Möglichkeit, dass die Handschriften in Rahmen von Studienprojekten im Handschriftenlesesaal der ULB eingehender erforscht werden", betont Jürgen Lenzing.