Stadtbefestigung
Die Stadtmauer war ein zentrales Merkmal der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt. Sie zeigte einerseits deren Eingrenzung als Rechtsbezirk und soziale Gemeinschaft, andererseits grenzte sie den städtischen Raum von seiner ländlichen Umgebung ab und bot Schutz vor feindlichen Überfällen. Über weite Phasen des Frühmittelalters war es üblich, dass Stadtbewohner bei Gefahr Schutz in der nächstgelegenen Burg suchten. Erst die Einfälle der Normannen in Frankreich und der Ungarn in Deutschland während des 9. bzw. 10. Jhs. führten dazu, dass das Verständnis für den Wert von befestigten bürgerlichen Siedlungen langsam wuchs und dass erste Städte entweder die einst von den Römern errichteten Mauern wiederherstellten oder neue anlegten.
Steinerne Stadtmauern, also Befestigungen, die nicht nur die zentralen Domburgen, Pfalzanlagen oder Klöster innerhalb der späteren Städte sicherten, sondern auch das Areal der Siedlungen selbst mit einschlossen, entstanden im deutschsprachigen Raum vermehrt seit dem 12. Jahrhundert (z.B. in Mühlhausen, Querfurt oder Weißenburg) Frühe Ausnahmen auf spätantiken Resten sind für Köln und Regensburg (10.Jh.) belegt. Als älteste städtische Befestigung rechts des Rheins gilt die fünfeckige Stadtmauer von Würzburg ("Bischofsmütze"), die mit 42 ha neben dem Dom und weiteren Kirchen auch die Altstadt umfasste und wohl auf das 11. Jh. zurückgeht. Mauertürme traten erstmals um 1200 in Erscheinung und wurden in der ersten Hälfte des 13. Jhs. zu festen Bestandteilen der Stadtmauern. Auch die Errichtung von Stadttoren in Form von Tortürmen (z.B. in Soest oder Xanten) fiel in diese Zeit. Wurden Stadtmauern bis ca. 1250 ausschließlich in großen Städten errichtet, setzte sich das Modell der steinernen Stadtmauer bis zum späteren 13. und 14. Jh. auch bei kleineren Städten durch, sodass diese ein konstitutives Element der Stadt wurde. Stadtmauern mit Toren prägten von nun an wie kein anderes Merkmal die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städte, und dennoch errichteten nicht alle eine Stadtmauer. In Ostengland gab es bspw. auch im 14. Jh. noch einige große Städte ohne Befestigungsanlagen.
Welchen baulichen Aufwand die Städte bei den Stadtmauern betrieben, hing entscheidend von ihrer Wirtschaftskraft und dem verfügbaren Baumaterial ab. So war die Dichte befestigter Städte im Mittelgebirgsraum deutlich höher als in anderen Teilen Deutschlands, da in dieser Region Steine leichter und in größerem Maße verfügbar waren. Im Spätmittelalter bildeten sich regionale Sonderformen der Stadtmauern heraus. Beim norddeutschen „Wiekhaus-System“ bspw. wurden Mauertürme entwickelt, die über die Stadtmauern hinausragten und zur Verteidigung über Schlitzscharten an der Vorderseite und den Flanken verfügten. Das Erscheinungsbild der Stadttore hingegen veränderte sich während des Spätmittelalters kaum und umfasste meist folgende Elemente:
1. große Flügeltüren als Eingang
2. einen Riegelbalken, welcher die Türen verschloss
3. ein feldseitiges „Überzimmer“ oberhalb des Torbogens
4. ein Fallgitter innerhalb des Torbogens
5. vor dem Fallgitter eine Zugbrücke, die den Stadtgraben passierbar machen konnte
Mauern und Tore waren als die auffälligsten Stadtmerkmale wichtig für das Selbstverständnis der Städte, was sich darin zeigte, dass deren Siegel häufig diese Befestigungsanlagen abbildeten. Sie waren jedoch nicht nur Symbole für Wehrhaftigkeit, sondern hatten auch wichtige wirtschaftliche und soziale Funktionen. Die Stadttore verbanden die Städte mit dem Umland, indem sie Handel ermöglichten und kontrollierten, welche Fremden die Mauern passieren durften. Stadttore waren topographische Bezugspunkte einer Stadt, um die sich bestimmte Viertel oder Quartiere gliedern konnten. Das waren z.B. Wach- und Instandhaltungsviertel, aus denen sich das Personal rekrutierte, das die Arbeit an den Stadttoren verrichtete.
Die bedeutendste Innovation des 14. und 15. Jhs. war die Errichtung von umlaufenden Zwingern. Als Zwinger bezeichnet man einen Umgang, der durch den Bau einer neu befestigten Vormauer zwischen dieser und der eigentlichen Stadtmauer entstand und dessen Funktionalität im 15. und 16. Jh. durch die zusätzliche Errichtung von Türmen und Gräben optimiert wurde. Zwinger wurden vor allem in großen und wirtschaftlich starken Städten errichtet, während Kleinstädte grundsätzlich zwingerlos blieben.
Waren die Städte durch ihre Stadtmauern in dieser Zeit für Angreifer beinahe uneinnehmbar, änderte sich die Situation in der Mitte des 15. Jhs. durch das Aufkommen der Feuerwaffen und im Speziellen durch den Einsatz von Kanonen dramatisch. Ein Kanonenbeschuss ließ die Stadtmauer platzen, sodass nicht mehr höhere Türme, Tore oder Mauern den Schutz einer Stadt sichern konnten, sondern breite Mauerverstärkungen entwickelt wurden, die die Befestigungsanlagen weiter vor die Stadt rückten Zu diesem Zweck wurden mit Erde gefüllte Bastionen entwickelt, die die Wucht der Geschosse abmilderten. Zudem wurden für die Handfeuerwaffen der Verteidiger Scharten in die Mauern gehauen und die Türme zu Kanonentürmen umgebaut. Damit einher ging auch eine Veränderung der Form der Stadtmauer. Die neuen Stadtmauern hatten eine spitzwinklige Form mit kanonenbestückten Bastionen, sodass der tote Winkel vor der Stadtmauer überwunden wurde. Diese Bastionen entstanden um 1500 zunächst in Italien, im deutschen Gebiet einige Jahrzehnte später und waren vom 16. bis 18. Jh. die dominierende Befestigungstechnik der Städte. Dieser wehrtechnische Ausbau überforderte viele Städte finanziell und wurde häufig vom Landesherrn übernommen, was dazu führte, dass die Städte zunehmend ihre politische Autonomie einbüßten. Ehemals unbedeutende Städte konnten jetzt von ihrem Landesherrn zu Festungsstädten ausgebaut werden, wenn sie strategisch bedeutend schienen. Andererseits wurden nicht alle großen Städte zu Bastionen ausgebaut: Augsburg und Nürnberg behielten beispielsweise Stadtbefestigungen im mittelalterlichen Stil.
Seit dem 18. Jh. vollzog sich in Deutschland eine zunehmende Abkehr vom Bastionssystem. Stattdessen wurden nun separate Verteidigungswerke (sog. Forts) vor der eigentlichen Stadt angelegt, um Angreifer von der Stadtmauer möglichst fern zu halten. Die Forts konnten durch einen sie umfassenden Graben ein geschlossenes Verteidigungswerk bilden. Im 19. Jh. setzte sich die Tendenz, die Verteidigungsanlagen immer weiter vor der eigentlichen Stadt zu platzieren, aufgrund der immer größer werdenden Reichweite der Geschütze fort. Diese Entwicklung mündete in der wehrtechnischen Innovation riesiger Verteidigungslinien wie der des Westwalls in Deutschland oder der Maginot-Linie in Frankreich, die nicht mehr nur einzelne Städte, sondern beispielsweise Landesgrenzen militärisch schützen sollten.
Das 19. Jh. war vor allem von der Entfestigung der Städte geprägt; um 1900 verloren die letzten deutschen Städte ihre mittelalterlichen oder barocken Stadtbefestigungen. Der wesentliche Grund für diese Entwicklung lag darin, dass Stadtmauern und -befestigungen ihre Funktionen eingebüßt hatten und zunehmend Verkehrshindernisse darstellten. Die Folgen der Industrialisierung, der erhöhte Platzbedarf durch neue Verkehrsmittel (Bahnhof und Eisenbahn) und die Erschließung neuer Stadtgebiete außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern, beschleunigten die Schleifung der Mauern und Tore. Erhalten geblieben sind heute in der Regel allenfalls noch einzelne Stadttore oder Mauerwerkspartien, die kaum noch als solche zu erkennen sind. Anstelle der früheren Befestigungen wurden oftmals Ringstraßen angelegt (z.B. in Wien) oder Promenaden errichtet (z.B. in Münster, Soest).
Joel Behne (1.9.2014)