(C2-6) Die Dialektik von Differenzierungsprozessen: Der Katholizismus in sich ausdifferenzierenden Gesellschaften des 19. Jahrhunderts

Am Beispiel des Katholizismus des 19. Jahrhunderts soll gezeigt werden, wie Entdifferenzierungsprozesse mit Differenzierungsprozessen einhergehen bzw. ‚verschränkt sind‘ und dass Entdifferenzierung unter bestimmten Bedingungen Differenzierung erzeugt. Bezugspunkte des Projekts bilden einerseits die Theorie funktionaler gesellschaftlicher Differenzierung, die sozusagen als ‚Kern‘ der klassischen Säkularisierungsthese bisher weitgehend unkritisiert geblieben ist, und andererseits die These vom zweiten konfessionellen Zeitalter, das mit partikularer Entdifferenzierung (Milieubildung) einhergeht. Zentrale Forschungsfragen sind: Lässt sich der Katholizismus des 19. Jahrhunderts als Entdifferenzierung begreifen? Wie und mit welchen Folgen tragen der Katholizismus und seine Akteure gleichzeitig zum Durchbruch der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft bei?

Der Katholizismus steht im Kontext des 19. Jahrhunderts als eine der großen religiösen Traditionen in der Auseinandersetzung mit Akteuren, die den Differenzierungsprozess vorantreiben und beeinflusst gleichzeitig als sich neu formierender Akteur Prozesse der Entdifferenzierung wie der Differenzierung. Charakteristisch für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Ausprägung von (Makro)Milieus. Die katholische Milieubildung besitzt eine hohe gesellschaftliche Relevanz. In ihr realisiert und reproduziert sich die spezifisch katholische Lebensweise und wird die Brücke zur Außenwelt geschlagen. Die Milieubildung und -bindung kann als ein Entdifferenzierungsphänomen in einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft interpretiert werden. Allerdings wäre es problematisch, die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft als einen linearen Prozess zu betrachten. Vielmehr sind bestimmte Muster von Prozessen der Ent-/Differenzierung auszumachen, auf die der Katholizismus bzw. verschiedene katholische Akteure (zum Beispiel Parteien und Vereine) Einfluss nehmen. Insofern bietet sich der Katholizismus in seinen verschiedenen Facetten als Forschungsobjekt an, und zwar als Religionsgemeinschaft auf der Makroebene, als Organisation auf der Mesoebene und in den alltäglichen Abgrenzungsprozessen zur nicht-katholischen Umwelt auf der Mikroebene.

Durch die Analyse von Ent- beziehungsweise Differenzierungsprozessen, in die der Katholizismus im 19. Jahrhundert eingebunden ist, wird eine Vergleichsdimension hinsichtlich der Einpassung von Religionsgemeinschaften in pluralistische Gesellschaften und verschiedener Arten von Weltanschauungskonflikten erzeugt. Im Projekt geht es um die Untersuchung eines Differenzierungsmusters neben anderen, dessen Spezifika rekonstruiert werden sollen.


Das Projekt ist Teil der Arbeitsplattform E Differenzierung und Entdifferenzierung und der koordinierten Projektgruppen Umgang mit Multireligiosität, Sozialformen des Religiösen in der Zweiten Moderne (seit den 1960er Jahren) und Religiöse Einflüsse auf wirtschaftliche Ordnungen und Handlungen.