(A7) Die religiöse Tiefengrammatik des Sozialen. Die Bedeutung der Religionsgemeinschaften für den normativen Hintergrund europäischer Wohlfahrtsstaatlichkeit
Die Leitfrage des Gesamtprojekts lautete: Sind religiöse Traditionen aus sich selbst heraus wohlfahrtsstaatsproduktiv oder entwickeln sie diese Produktivität erst unter bestimmten historischen Bedingungen, und wenn dies so ist, unter welchen?
Rekonstruktion der wichtigsten die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung in Deutschland prägenden Semantiken (Teil A)
Auf dem semantischen Feld zeigte sich der Kampf sowohl zwischen den Konfessionen wie auch zwischen religiösen und säkularen Akteuren um die Welt des Sozialen. Die Wohlfahrtsstaatsproduktivität religiöser Traditionen konnte aus dem Zusammenspiel politisch-gesellschaftlicher Konfliktlagen mit tradierten Wertideen rekonstruiert werden: So konnte die bürgerlich-protestantische Sozialreform mit ihrer ‚staatssozialistischen’ Option im Kaiserreich problemlos an den lutherischen Topos der ‚fürsorglichen Obrigkeit’ anknüpfen, verlor aber mit dem Ende des Staatskirchentums ihre institutionelle Basis. Die Suche nach einem „dritten Weg“ verlagerte sich im Folgenden auf das sozialstaatsskeptische ordoliberale Projekt. Bei der Reform des Sozialstaats schließt der Protestantismus normativ an den Verantwortungsbegriff an.
Die Wohlfahrtsstaatsproduktivität des Sozialkatholizismus entwickelte sich als Reaktion auf eine Konfliktlage, in der er sich zum einen der Hegemonie des preußisch-protestantischen Staates, zum andern der Weltanschauungskonkurrenz durch atheistische Sozialdemokratie und laizistischen Liberalismus erwehren musste und so das Feld der Sozialpolitik als neue Selbstbehauptungschance entdeckte. In der Weimarer Republik verfügte er sowohl über politisch wirksame Akteure (Zentrum, Reichsarbeitsministerium) als auch eine effektive Semantik (Subsidiarität).
Vergleichende Analyse religiös-konfessioneller Einflussfaktoren in 13 europäischen Ländern (Teil B)
Folgende Thesen ließen sich bezüglich der Leitfrage formulieren:
- Religionen sind aus sich heraus nicht wohlfahrtsstaatsproduktiv.
- Sie werden dies nur unter bestimmten Bedingungen und Konstellationen. Dazu gehören u.a. interne Modernisierungsprozesse als Reaktion auf die strukturellen und sozialen Umbrüche der Moderne, eine bedeutsame Rolle und Funktion bei der Staats- und Nationenbildung, Konfliktkonstellationen und Spannungslinien im Verhältnis von Staat und Kirche , Wettbewerb der Konfessionen auf dem Feld des Wohlfahrtssektors, intermediäre Selbstorganisation, die Ausbildung einer Wohlfahrtsstaatskoalition unter Einschluss religiöser Parteien und charismatische, religiös geprägte Persönlichkeiten.
- Die internen Modernisierungsprozesse in den Religionen sind dabei notwendige Bedingung. Je mehr weitere Bedingungen erfüllt sind, desto stärker wird der Einfluss der Religionen auf die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung.
Jedes der beiden Teilprojekte wurde auf einem interdisziplinären Workshop diskutiert:
- „Religiöse Dimensionen wohlfahrtsstaatlicher Leitsemantiken in Deutschland seit dem Kaiserreich“, Münster, 26./27. Juni 2009
- „Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa / Religion and the Welfare State in Europe“, Münster, 27./28. November 2009