Kleine Stiege - großer Mann
Dass Bildung heutzutage ganz selbstverständlich ein hohes Gut ist, ist auch Persönlichkeiten wie Alexander Haindorf zu verdanken. Zu seinen Lebzeiten sah das anders aus: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren Elementarschulen für die meisten Menschen die einzigen Bildungsanstalten, die sie jemals von innen sahen. Nicht ausgebildete Pädagogen unterrichteten hier, sondern häufig ehemalige Soldaten. Entsprechend war das Niveau von Unterricht und Prügelstrafen. Zusammen mit seinem Schwiegervater gründete Alexander Haindorf die Marks-Haindorf-Stiftung, die sich für besseren Unterricht und eine bessere Ausbildung der Lehrer einsetzte. Doch das ist nicht das einzige Besondere an Haindorf: Er war der erste jüdische Privatdozent an der Universität Münster.
Alexander Haindorf hätte es bis zum Professor bringen können, doch die Zeit war dafür noch nicht reif. "Es war einfach außerhalb jeglicher Vorstellungskraft, dass ein Jude so eine Stellung haben könnte und damit Nicht-Juden gleichgestellt wäre", erzählt Prof. Susanne Freund von der Fachhochschule Potsdam, die ihre Dissertation über die Marks-Haindorf-Stiftung geschrieben hat. Als Grund für seine Ablehnung wurde angegeben, dass noch niemals ein Jude an eine deutsche Universität berufen worden sei. "Es ist nicht bekannt, wie Alexander Haindorf dies kommentiert hat. Eine Konsequenz daraus war allerdings, dass er das Bildungssystem und die Aufstiegschancen für Juden insgesamt verbessern wollte", betont Susanne Freund.
Alexander Haindorf, der 1784 geboren wurde, war es nicht unbedingt in die Wiege gelegt, dass er einmal ein bedeutender Intellektueller und Reformer werden würde. Als seine Eltern kurz nacheinander starben, kam er zu den Großeltern mütterlicherseits nach Hamm. Der jüdische Gemeindevorsteher Anschel Hertz erkannte jedoch das Potenzial des Jungen und förderte ihn nach Kräften. Dass der Junge sein Abitur machen und studieren konnte, war nicht selbstverständlich. Ursprünglich war es der Wille von Anschel Hertz, dass sein Schützling Rabbiner werden sollte. Doch als Alexander Haindorf sich für die Naturwissenschaften interessierte, unterstützte er ihn auch dabei.
Ganz im Sinne des Humboldtschen Bildungsideals entwickelte sich Alexander Haindorf zum Universalgelehrten. Er studierte Medizin, Psychologie, Philosophie und Geschichte. Ein Jahr nach seiner Promotion habilitierte er sich 1810 mit seiner Schrift über die "Pathologie und Therapie der Gemüts- und Geisteskrankheiten". Von seinen Kommilitonen und Kollegen unterschied ihn vor allem seine hohe Intellektualität. Er hörte nicht nur Vorlesungen in vielen unterschiedlichen Fächern, er beherrschte auch die Inhalte wie ein Spezialist. Vor allem als Pädagoge war er ein Naturtalent.
Das zeigte sich, als er nach der Ablehnung durch die Akademie Münster – zu der die Universität im Jahr 1810 herabgestuft worden war und der er bis 1847 als Privatdozent treu blieb, sein Lebenswerk begann: die Reform der jüdischen Bildung. Zusammen mit dem Vater seiner früh verstorbenen Frau Elias Marks gründete Alexander Haindorf eine Stiftung, deren Ziel die Einbindung der Juden in die bürgerliche Gesellschaft war. Zu diesem Zweck betrieb der Verein eine Musterschule, die sich eines ausgezeichneten Rufes erfreute, bildete künftige jüdische Lehrer aus und sorgte für die Vermittlung jüdischer Jungen ins Handwerk, um das Vorurteil zu widerlegen, Juden seien nur im Geldwesen und in freien Berufen aktiv.
Statt in dunklen Klassenzimmern, in denen bis zu hundert Kinder aller Altersstufen, nach Geschlechtern getrennt, gleichzeitig unterrichtet wurden, setzte Alexander Haindorf auf den koedukativen Unterricht in kleinen Gruppen. Auch das ganzheitliche Lernen von Lesen und Schreiben, indem nicht einzelne Buchstaben, sondern ganze Wörter unterrichtet wurden, setzte er schon um.
Lehrtätigkeit und Schulleitung füllten den Vielbegabten noch nicht aus. Er arbeitete zudem als hochgeachteter Arzt in Münster, der unter anderem Annette von Droste-Hülshoff behandelte, und machte sich als Kunstsammler einen Namen. Darüber hinaus schrieb er Geschichtswerke und war alleinerziehender Vater seiner Tochter Sophie, mit der ihn ein inniges Verhältnis verband und deren Bildung ihm sehr am Herzen lag.
Kaum etwas erinnert in Münster an Alexander Haindorf, der 1862 in Hamm starb. Sein Grab ist auf dem jüdischen Friedhof zu finden. Am Kanonengraben 4 nutzt die jüdische Gemeinde das Haus der Marks-Haindorf-Stiftung. Diese wurde 1942 mit der Deportation der letzten jüdischen Bürger aus Münster aufgelöst. In der Nähe findet sich die Marks-Haindorf-Stiege, eigentlich viel zu klein für den großen Mann. Ein Erlebnis besonderer Art verspricht seine Buchsammlung, die in der Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) aufbewahrt wird. Sobald die 2861 Bände, die der ULB von der Witwe von Haindorfs Ur-ururenkel übergeben wurden, digitalisiert und katalogisiert worden sind, können sie genutzt werden. "Es ist toll, dass die ULB die Bücher übernommen hat und jedermann damit arbeiten kann", sagt Susanne Freund mit deutlicher Freude in der Stimme.
Nicht nur sein Intellekt zeichnete Alexander Haindorf aus. "Er war jemand, der etwas bewegt hat", erzählt die Potsdamer Wissenschaftlerin. Und so konnte er noch erleben, dass 1859 der Göttinger Mathematiker Moritz Stern der erste jüdische Ordinarius in Deutschland wurde.
Brigitte Nussbaum
Dieser Artikel erschien in der Januar-Ausgabe der Universitätszeitung wissen|leben.
Diesen und weitere Texte finden Sie unter: www.uni-muenster.de/unizeitung/index.html