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Social Turn in der Literatur(wissenschaft)?
Winter School I Graduate School Practices of Literature der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, 3. bis 5. Dezember 2014
Offizielle Homepage der Winter School: kultur-und-geisteswissenschaften.de
Die Winter School richtet sich an Nachwuchswissenschaftler/innen aller Philologien, Kultur- wie Sozialwissenschaften und soll Thematisierungen bzw. Thematisierungsweisen des Sozialen in der Gegenwartsliteratur sowie sozialästhetische Relationierungen in der Literatur- wie Kulturtheorie in den Blick nehmen. Diskutiert werden soll, ob sich entsprechende Tendenzen in der Literatur und der Academia als “social turn“ konzeptualisieren lassen.
Die Klagen über die Gegenwartsliteratur sind Legion – und so alt wie die Gegenwartsliteratur selbst. Selbstbezogen, kraftlos, provinziell und wirklichkeitsfremd – in zyklischen Abständen wird das feuilletonistische Scherbengericht einberufen. Die jüngst von Florian Kessler angestoßene Debatte setzt im Vergleich zu den üblichen Schmähreden jedoch einen neuen Akzent. Die jüngere Gegenwartsliteratur werde vor allem von Abkömmlingen des Großbürgertums verfasst und erfolgreich im Literaturbetrieb könne nur sein, wer Zugang zu der abgehobenen In-Crowd aus Großverlegern, -agenten und publizierender Hochprominenz habe. Die in diesem Geflecht entstehende, in den einschlägigen Literaturakademien beschulte “Hornbrillen-Literatur“ sei konformistisch und auf Marktgängigkeit getrimmt. Der neuen Literatur fehle es daher an „abweichenden Stimmen und Erfahrungshintergründen“ (vgl. Florian Kessler: Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!, DIE ZEIT 16.01.2014). Der Schriftsteller und Literaturkritiker Enno Stahl sekundierte wenig später: In dem Literaturbetrieb würde sich mit der von Kessler beschriebenen Entwicklung nur das abbilden, was in der Gesamtgesellschaft seit den 1990er Jahren an sozialen Exklusionsprozessen zu beobachten sei. Statt diese kritisch zu begleiten und die Literatur als ein Medium der gesellschaftlichen Erkenntnis zu gestalten, wäre die Gegenwartsliteratur selbstbespiegelnd in ihrem schichtspezifischen Horizont gefangen (vgl. Enno Stahl: Wer schreibt, der bleibt, tageszeitung 23.01.2014).
Die Prüfung der Diagnosen von Kessler und Stahl steht aus. Ob sie in ihrer Absolutheit haltbar sind ist fraglich. An Gegenbeispielen mangelt es nicht. Wichtiger aber ist, dass der von ihnen für kurze Zeit geprägte gegenwartsliterarische Diskurs seit jeher weniger einen analytischen als vielmehr postulativen Charakter hat. Formuliert werden also vielmehr Programmforderungen und eigene Positionierungen werden ausgestellt. Markiert die Debatte um die “Literatur der Ärzte- und Lehrerkinder“ also die Aufwertung einer Literatur, die sich verstärkt der sozialen Gegenwart zuwendet? Und wenn ja, inwiefern unterscheidet sich diese Hinwendung von dem Muster und den Forderungen aus den 1968er Jahren? Welche Ansätze und Schreibweisen gibt es bei jenen Autorinnen und Autoren, die sich der sozialen Wirklichkeit annehmen, die prekäre Lebensrealitäten, die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise oder die Neuverhandlungen von Privatheit und Bürgerrechten infolge der digitalen Revolution und 9/11 thematisieren? Und wer identifiziert oder nominiert eigentlich die Themen, die eine vermeintliche gesellschaftliche Relevanz evozieren? Welche Rolle nehmen hier der sich rasant verändernde, sich ausdifferenzierende Literaturbetrieb, welche die Literaturwissenschaft ein und nach welchen Prinzipien werden deren Aufmerksamkeitsökonomien gesteuert?
Angesichts einiger in der Vergangenheit zu beobachtender „kulturalistische[r] Übertreibungen von Sprachlichkeit, Textualität und Symbolsystemen“ (Doris Bachmann-Medick, 2006), sind in den Philologien Bemühungen einer konzeptuellen Rückbindung sozialer Sachverhalte an die Literatur zu verzeichnen. Zu nennen wären nicht allein system-,feld- und anerkennungstheoretische Forschungsprojekte. Auch eine Revision des Cultural Turn oder die (Re-)Empirisierung im Zusammenhang mit den Digitalen Literaturwissenschaften weisen in diese Richtung. Eine Herausforderung für das damit aufgerufene literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeitsverhalten besteht sicherlich darin, die Literatur als Reflexions- und Kommunikationsinstanz in der sozialen Welt wie als Ergebnis sozialer Prozesse zu denken und zugleich die teils problematischen Vereinfachungen vulgärmaterialistischer wie sozialgeschichtlicher Abbildungs- und Wiederspiegelungstheoreme zu umgehen. Gleichzeitig bedarf es der selbstkritischen Prüfung, welchen Vorgaben und Zielvorstellungen das Postulat eines “social turns“ folgen würde. Wie können die entsprechenden Relationierungsversuche also gebündelt und akademisch formatiert werden?
Die Winter School verfolgt nicht nur ein interdisziplinäres, sondern auch ein intersektorales Anliegen: Nachwuchswissenschaftler/innen sollen mit Literaturkritiker/innen bzw. Vertreter/innen von Verlagen und Medien über “das Soziale“ in der Literatur und über die Rolle einer entsprechend akzentuierten Literatur im Literaturbetrieb wie in den Literaturwissenschaften in den Dialog treten.
Für die Keynotes der Winter School konnten Dr. Enno Stahl (Neuss), Dr. Elke Bruns (Berlin), Dr. Innokentij Kreknin (Universität Passau) und Prof. Dr. Lisette Gebhardt (Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main) gewonnen werden. Weiterhin sind Workshops von u.a. Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf, Dr. Maren Conrad (beide Westfälische Wilhelms-Universität Münster) und Prof. Dr. Ilse Nagelschmidt (Universität Leipzig) geplant.
Bei Fragen wenden Sie sich an:
haimo.stiemer@uni-muenster.de oder dominic.bueker@uni-muenster.de
Mehr Material und Informationen:
Offizielle Homepage der Winter School: kultur-und-geisteswissenschaften.de