Kleine Bretter, die die Welt bedeuten
Anne Ratte-Polle hatte schon immer ein Faible für die Bühnenkunst. Bereits in ihrer Jugend machte sie beim Schultheater ihre ersten Schritte auf der Bühne. Ihre frühe Begeisterung und ihr Engagement haben sich offenkundig gelohnt – denn heute ist die gebürtige Cloppenburgerin eine gefragte Schauspielerin, die in Kinofilmen und international erfolgreichen Serien zu sehen ist.
Ihre Eltern waren beide Lehrer, eine künstlerische Karriere war in ihrer Heimat eher ungewöhnlich. „Ich hatte niemanden in meinem näheren Umfeld, der beruflich etwas mit Kunst zu tun hatte“, erinnert sie sich. Insofern war es logisch, dass Anne Ratte-Polle sich für ein Grundschullehramtsstudium an der Universität Münster einschrieb; es eröffnete ihr den Weg ins Fach der Theaterpädagogik. „Ich wollte zunächst das Leben in der ‚großen Stadt‘ kennenlernen, aber hoffte auch, jemanden zu finden, der mir raten könnte, ob ich die Schauspielerei beruflich verfolgen sollte. Für mich war dafür ein Anstoß von außen nötig“, meint die Alumna.
So studierte sie in Münster und probte einmal in der Woche mit einer Theatergruppe des Lektorats für Sprecherziehung in der Studiobühne. „Das Studium habe ich durchaus ernst genommen und alle Scheine gemacht. Aber mein Fokus lag auf der Schauspielerei“, erinnert sie sich. Sie lebte damals zuerst in einem Studierendenwohnheim, danach in einer WG. Um sich die späteren Fahrten zu den Vorsprechen an verschiedenen Schauspielschulen zu finanzieren, hatte sie viele kleine Jobs: Anne Ratte-Polle verkaufte Pizzen auf dem Weihnachtsmarkt und Softeis am Prinzipalmarkt, sie kellnerte in einem Bistro und betreute Kinder in einem Kindergarten.
Der gewünschte Anstoß von außen kam 1994, als sie in ihrem zweiten Jahr bei der Studiobühne die münstersche Schauspielerin Gabriele Brüning kennenlernte. „Bei ihr habe ich die Basis für alles Weitere gelernt und habe bis heute großen Respekt vor ihrem Schaffen.“ Ihre Freundschaft habe noch immer Bestand. Anne Ratte-Polle war 21 Jahre alt, als Gabriele Brüning ihr empfahl, eine Schauspielausbildung zu machen. Um an Schauspielschulen genommen zu werden, darf man in der Regel nicht älter als 24 sein, erfuhr sie. „Mir war somit klar: Ich muss zügig anfangen. Ich war aber immer auch froh über meine drei Jahre in Münster. Sie haben mir geholfen, meine eigene Meinung und Persönlichkeit zu entwickeln, was für den weiteren, nicht immer einfachen Weg von Vorteil war.“ 1996 führte sie ihr Weg nach Rostock, wo sie ihre Schauspielausbildung absolvierte.
Die Bühne bedeutet ihr immer noch viel, zurzeit steht sie wieder in der Produktion „The Hunger“ auf der legendären Volksbühne in ihrem Wohnort Berlin. Seit 2013 hat sich die Alumna allerdings dafür entschieden, ihren Schwerpunkt auf die Kinoleinwände und Fernseher des Landes zu verlagern. Seitdem spielte sie Hauptrollen in Filmen wie Katharina Wolls „Alle wollen geliebt werden“, Dominik Grafs „Mein Falke“ oder İlker Çataks „Es gilt das gesprochene Wort“, für den sie 2020 mit dem Bayerischen Filmpreis als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde. Im Fernsehen kann man sie in Serien wie „Dark“, „Zwei Seiten des Abgrunds“, „Love Sucks“ und „Tatort“ sehen.
„Im Fokus habe ich bei meiner Auswahl immer Stoffe, die mich begeistern, anders kann man diese Energie auch nicht aufbringen“, sagt Anne Ratte-Polle. „Die Produktionen sind mal besser, mal schlechter bezahlt. Aber ich merke heute, dass ich genau dadurch meine Art zu spielen entwickelt habe.“
Einen künstlerischen Weg eingeschlagen zu haben, bereut sie keine Sekunde, und doch gibt es Dinge, die der Schauspielberuf erschwert. „Es gibt keine Planbarkeit. Wenn plötzlich ein neues Projekt oder Drehtage anstehen, muss ich andere Verpflichtungen absagen“, bedauert sie. „Urlaube mit Freunden oder Freizeitaktivitäten sind leider nicht gut planbar.“
Wenn sie auf ihre bisherige Karriere zurückblickt, hat Anne Ratte-Polle vor allem eins erkannt: Es ist wichtig, sich nicht von anderen beeinflussen zu lassen. „Es gab immer wieder Stimmen, die mich entmutigen wollten. Sobald man anfängt, auf sie zu hören, wird es schwierig“, meint sie.
Die Stimmen gab es schon während ihrer Zeit in Münster. „Bei einer Aufführung von ‚Romeo und Julia‘ hatten wir als Bett nur einen Tisch, der bei der Premiere, während einer leisen Szene von mir, umkippte. Am nächsten Tag arbeitete ich wieder am Softeisstand und las eine vernichtende Kritik mit riesengroßen Fotos über unsere Inszenierung“, erinnert sie sich. „Ich fand das übertrieben, wir waren schließlich keine Profis.“
Im Studierendentheater sieht die Schauspielerin einen großen Mehrwert für junge Menschen und hofft, dass sie auch heute noch Gefallen an echter Schauspielerei finden. „Durch Social Media hat sich die Bühne verlagert – von der Inszenierung eines Stückes hin zur permanenten Selbstinszenierung. Aber das gemeinsame, kreative Arbeiten, die Auseinandersetzung mit Geschichten und anderen Welten, die Körperlichkeit beim Spielen und die daraus entstehende Leichtigkeit sind Dinge, die ohne studentische Theatergruppen verloren gehen können“, betont sie.
Aus Münster ist ihr neben dem Theater die Arbeit des AStA im Gedächtnis geblieben, bei dem sie sich auch kurzzeitig engagierte. „Ich war fasziniert von der Energie, die die jungen Leute aufbrachten, um das Leben ihrer Kommilitonen zu verbessern“, sagt sie. „Es ist wichtig, dass Menschen ins Gespräch kommen, um Probleme zu lösen. Und die Arbeit des AStA trägt einen wichtigen Teil dazu bei.“
Autor: Tim Zemlicka
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 8, 11. Dezember 2024.