22.7.2022
Heute ist nun definitiv unser letzter Tag und er beginnt mit einer Überraschung. Nico liegt mit seinen Klamotten im Bett und Andreas fehlt komplett. Beide waren so besorgt, dass sie verschlafen, dass Andreas nie ins Bett ging und Nico seine Taktik des rechtzeitigen Aufwachens verfolgte. Jedenfalls haben beide Taktiken funktioniert, denn als mein Wecker klingelt sind sie schon beide aktiv. Viel zu früh! Ich finde, meine Taktik den Wecker auf 23:45 Uhr zu stellen ist mit weitem Abstand die Beste der drei Varianten. Ich habe zumindest ein paar Stunden geschlafen und auch Ernst hat munter vor sich hin gesägt. Eine schnelle Katzenwäsche, dann steht der russische Taxifahrer auch schon vor der Türe. Fast wie im Spitzbergenkrimi „78° Tödliche Breite“ von Hanne H. Kvandal, in dem auch ein russischer Taxifahrer vorkommt. Gut beobachtet, dass viele Taxifahrer hier russisch sind.
Gerade als wir von unserem Gjesthuset 102 abfahren, kommt der Bus, um die anderen Leute aufzusammeln. Es ist seine erste Station und wir sind somit ca. 30 Minuten vor der Meute. Wir sind sogar so früh, dass wir ein paar Minuten warten müssen, bis der SAS Schalter öffnet. Das Einchecken verläuft problemlos und schnell. Sogar Andreas kann einchecken, obwohl er sich aufgrund der Probleme, die er auf dem Herflug hatte nicht sicher ist, ob er überhaupt ein Ticket hat. Jetzt sitzt er zufrieden mit uns in der Wartehalle und isst ein Sandwich.
Ich schaue mir durch die großen Fenster das tolle Lichtspiel an, das der erwachende Tag zu bieten hat. Die Wolkendecke ist sehr unterschiedlich und so ergeben sich helle Flecken, durch die die Sonne den Fjord und die umliegenden Berge beleuchtet. Wunderschön. Heute ist der Fjord spiegelglatt wie ich ihn noch nie gesehen habe. Sehr ungewöhnlich, dass sich auf einer so großen Fläche absolut nichts bewegt. Die Berge und die vor Anker liegenden Schiffe spiegeln sich darin. Es ist genial. Wie sagt Cynthia immer „Der Tag kann was!“
Wie ich so meinen Gedanken nachhänge bemerke ich auch, dass die Berge rund um Longyearbyen praktisch komplett schneefrei sind und auch viel grüner erscheinen, als ich sie in Erinnerung habe. Das kann jetzt daran liegen, dass wir voriges Jahr deutlich früher in der Saison hier waren und der ansonsten letzte Besuch im Jahr 2019 zu lange her ist, um sich korrekt zu erinnern. Andererseits erinnere ich mich gut, dass ich die gleiche Beobachtung bereits seit 2008/2009 mache. Da müsste man tatsächlich mal mit einem Biologen reden, ob sich mein subjektiver Eindruck bestätigen lässt.
Ich liebe Spitzbergen! Gerade deshalb stimmt es mich immer traurig von hier abreisen zu müssen. Und genau deshalb bin ich auch zunehmend besorgt, dass der Zug für uns schon lange abgefahren sein könnte, um diese einzigartige Umgebung vor den Folgen des Klimawandels zu bewahren. Das wird die Zukunft zeigen. Uns bleibt momentan nur die Beobachtungen zu machen und stetig und vehement darauf hinzuweisen, wie dramatisch diese Folgen bereits jetzt sind. Spitzbergen ist mitten im Wandel. Es ist schon jetzt nicht mehr das Spitzbergen unserer ersten „wilden“ Jahre. Und der Wandel wird mit Sicherheit weitergehen und sich beschleunigen. In Longyearbyen leben jetzt viel mehr Menschen als früher, es gibt mehr und größere Häuser, um diese Menschen unterzubringen, es gibt mehr Hotels und es gibt mehr Tourismus. Vor allem ist der Kreuzfahrttourismus mittlerweile auf einem völlig aus dem Ruder gelaufenen Niveau. Nachhaltigkeit schaut mit Sicherheit anders aus und ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Art von Tourismus langfristig für Spitzbergen gut ist. Das wird die Zukunft zeigen.
Ich höre auch schon wieder auf mit dem Unken! Ich kann nämlich jetzt ins Flugzeug einsteigen und meinen Platz in der letzten Reihe einnehmen. Beim Starten und in den nächsten paar Minuten kann ich noch einen letzten Blick erhaschen, dann sind wir über einer geschlossenen Wolkendecke unterwegs in Richtung Oslo. Ich denke, ich bin der einzige, der eine Maske trägt. Erstaunlich, wie schnell man wieder in die alten Verhaltensmuster zurückfällt. Ny Alesund und Longyearbyen sind quasi maskenfreie Zonen, mit Möglichkeiten zur Ansteckung – siehe Nico – und trotzdem trägt niemand eine Maske. Auch in Oslo auf dem Flughafen sehe ich nur vereinzelt Masken.
Um kurz vor 5:00 Uhr erreichen wir Oslo. Hier trennen sich unsere Wege. Andreas und Cynthia verlassen den Flughafen, währen Nico, Ernst und ich weiterfliegen. Ein kurzer und kräftiger Handschlag, dann sind Cynthia und Andreas verabschiedet. Kurz und schmerzlos! Mit den anderen zwei geht es zumindest noch gemeinsam durch die Sicherheitskontrolle. Leider verliere ich dabei mein geliebtes Leatherman Tool, das ich blöderweise in eine meiner Plastikdosen im Handgepäck gepackt hatte. Ich ärgere mich sehr über mich, denn schließlich sind die Dinger ja nicht gerade billig, um nicht zu sagen sauteuer. Ernst und Nico machen sich auf den Weg nach München, wo Nico ca. 10 Stunden auf den Flug nach Münster warten muss. Er wird also erst gegen Abend in Münster sein, während ich am Nachmittag dort sein sollte, weil ich über Frankfurt fliege. Mein Flug ist erst um 9:50 Uhr und ich genieße die Annehmlichkeiten der SAS Lounge, die um diese Zeit fast menschenleer ist. Neben Kaffee trinken nutze ich die Zeit um am Blog zu arbeiten und bis ich mich umsehe, werde ich in Frankfurt wieder wach. So einen Flug von Oslo nach Frankfurt kann man vollständig verschlafen. Ich erinnere mich nicht einmal an den Start!
Frankfurt ist wie üblich geschäftig und ich muss mich etwas sputen, um von Gate A30 zu Gate A52 zu kommen. Das klingt erst einmal recht nahe. Das Problem ist, dass die Gatenumerierung im Finger mit A30 bei A42 aufhört. Man muss also den ganzen Finger bis in den Zentralbereich laufen und dann im anderen Finger bis zu A52. Vielleicht hat ja jemand an einen Tunnel zwischen den zwei Fingern gedacht, aber ich habe ihn heute Morgen nicht finden können. Ich komme dank flotten Schrittes ein paar Minuten zu früh am Gate an und kann erst einmal durchschnaufen. Soweit das mit Maske geht. Beim Einsteigen kriege ich einen Zettel an meinen Rucksack – ich soll ihn am Flugzeug abgeben. Als ich dem Mann sage, dass mein Rucksack voll mit Lithium-Akkus, Elektronik und Computer ist, meint er ich solle es rausnehmen. Ich weise ihn dezent darauf hin, dass ich dann zwar Einzelteile habe, der Platzbedarf aber deshalb nicht kleiner wird. Außerdem bin ich mit diesem Typ von Flugzeug schon zig Mal geflogen und weiß ganz genau, dass er in die Fächer passt. Genervt dreht er sich um und sagt ich solle das mit den Flugbegleitern regeln. Mache ich dann auch. Ich sage einfach nichts und die Flugbegleiterin spricht mich erst gar nicht auf meinen Rucksack an. Und siehe da, in den Fächern gibt es jede Menge Platz. Da hätte ich auch zwei oder drei Rucksäcke dabeihaben können. Problem gelöst, Zeit zu einem weiteren Power-Napping von ca. 30 Minuten, der Flugzeit zwischen FRA und FMO.
Das Gepäckband läuft an und die ersten Koffer erscheinen. Die gleichen Koffer laufen nach 10 Minuten noch immer im Kreis herum. Weitere Koffer sind nicht in Sicht. Das kann eigentlich nur eins bedeuten, dass mein Gepäck irgendeinen Umstieg nicht mitgemacht hat und jetzt irgendwo steht. Also stelle ich mich in die lange Schlange der Gepäckermittlung, denn es hat offensichtlich eine größere Anzahl an Passagieren erwischt. Als ich sage, dass ich einen schwarzen Seesack und eine rote Hartplastikbox vermisse, rollt der Angestellte mit seinen Augen, denn Seesäcke gibt es auf der Beschreibungskarte nicht. Wir einigen uns darauf das Stück als Rucksack zu bezeichnen. Die rote Kiste geht als Transportkiste durch, obwohl das Beispiel auf der Beschreibungskarte recht wenig mit meiner Box zu tun hat. Nachdem ich eine Zollerklärung unterschrieben und eine Telefonnummer hinterlassen habe, kann ich gehen.
Carolyn hat den Pathfinder im Parkhaus geparkt und hat mir die Nummer des Abstellplatzes und eine Wegbeschreibung geschickt. So ist es kein Problem, das Auto zu finden. Der Parkzettel liegt im Wagen und ermöglicht es mir zu zahlen. Stolze 87 Euro bin ich für die Zeit seit dem 5.7. los aber Carolyn meint, sie würde die Kosten übernehmen, weil sie nicht auf den billigeren Außenparkplätzen geparkt hat. Gegen 15:20 Uhr bin ich zuhause.
„Schön wars!“ habe ich zu Ernst und Nico beim Abschied gesagt und sie haben mir Recht gegeben. Es war eine gute Feldsaison mit einigen Aufregungen. Angefangen mit dem drohenden SAS Streik auf der Hinreise nach Longyearbyen, zahlreichen Eisbären, die uns manchmal ins Gehege kamen, einem lecken Motorboot bei dem der Motor nicht immer funktionierte, einer Hütte, die eigentlich nicht für fünf Personen geeignet ist, einem Covid-Fall im Team und schließlich dem drohenden SAS Streik auf der Rückreise von Longyearbyen, um nur einige zu nennen. Als Konstante hat sich wie in den Vorjahren das AWI-Team erwiesen. Kompetent, freundlich, hilfsbereit und einfach saugut! Es hat Spaß gemacht mit euch zu arbeiten und der Blog ist vielleicht auch eine gute Möglichkeit euch positives Feedback zu geben und Danke zu sagen. Aber das AWI-Team vor Ort ist natürlich nur die Spitze des Eisbergs. Ein dickes Dankeschön geht auch nach Bremerhaven! Ohne die AWI Unterstützung wäre die logistische Organisation solch einer Feldsaison um ein Vielfaches schwieriger und auch teurer für uns. Mir ist das erst bewusst geworden, als wir von der Kjærsvika-Hütte zurückkamen und Tommy in einem Nebensatz erwähnt hat „This is a lot of gas“. Ja, Recht hat er. Dabei geht es nicht nur um das Benzin, sondern auch um seine Arbeitszeit, die er darauf verwendet fünf halbwahnsinnige Wissenschaftler vom Ende der Welt abzuholen. Wir sollten es keinesfalls als Selbstverständlichkeit betrachten, dass wir auf derart großzügige Weise unterstützt werden. Darum gebührt dem AWI unser Dank für mehr als 10 Jahre Unterstützung. Ich wollte das hier einmal ganz explizit gesagt haben!
Der erste Blick auf die gewonnenen Daten ist vielversprechend. So konnten wir einen spektakulären Film unserer Erosionsstruktur über den Zeitraum von zwei Wochen erstellen, haben die Temperatur, Bodenfeuchte und Sonneneinstrahlung für einen mehr oder weniger identischen Zeitraum aufgezeichnet, haben die Bewegungen in Steinkreisen dokumentiert, mehr als 4 km Bodenradarprofile aufgenommen und mehrere hundert von Gbytes an Drachen- und Pole-Bildern mit der GoPro aufgenommen. Die Auswertung dieser Daten wird noch viele Monate in Anspruch nehmen und im September müssen wir bereits unseren Projektantrag für die Saison 2023 einreichen. Schließlich haben wir keinen Koffer in Berlin aber Nudelsuppen in Ny Alesund! Und diese Suppen löffle ich nur allzu gerne aus.
Was ist ein sicheres Zeichen, dass die Feldsaison in Spitzbergen vorbei ist und einem der Alltag wieder fest im Griff hat? Klar, man kann sagen, dass das Emailfach überquillt, die Telefonate wieder los gehen oder man ein permanentes schlechtes Gewissen hat, weil man wieder nur einen Bruchteil dessen geschafft hat, was eigentlich hätte erledigt werden müssen. Alles richtig aber für mich ist es der Wechsel der Armbanduhr. Meine quitschig rosafarbene Regattauhr verschwindet wieder in der Schublade und eine „normale“ Uhr ist wieder am Handgelenk.
So, das wars! Bis nächstes Jahr!