Populäre Irrtümer in der Physik

Der durchgeschnittene Eisblock

Wird über einen Eisblock ein Draht gespannt, an dessen Enden sich Gewichte befinden, so wandert dieser langsam durch den Eisblock hindurch. Der Eisblock wird also durch den Draht zerschnitten. Oberhalb des Drahtes friert das Eis wieder zusammen.

In einer Reihe von Büchern und auf vielen Internet-Seiten findet man die Behauptung, dass dieser Effekt auf Druckschmelzen beruhe. Der Druck, den der Draht auf das Eis ausübt, führe aufgrund der Dichteanomalie des Wassers zu einer Temperaturerhöhung, die das Eis zum Schmelzen bringt.

Dem ist nicht so. Die Temperaturerhöhung, die man z.B. mit der Clausius-Clapeyron-Gleichung abschätzen kann, beträgt nur einen kleinen Bruchteil eines Grades und ist viel zu gering, um den Effekt hervorzurufen. Das Rätsel löst sich, wenn man statt des Drahtes einen Nylonfaden gleicher Dicke verwendet. In diesem Fall schmilzt das Eis nicht. Nylon ist ein schlechter Wärmeleiter. Man erkennt: im Falle des Metalldrahtes wird das Schmelzen durch die Wärme hervorgerufen, die der Draht von den Gewichten auf das Eis überträgt.

W. Demtröder: Experimentalphysik 1, Springer, Berlin, 2008, Kap. 10.4.2.d
Schlittschuhlaufen: Warum ist Eis so glatt? (Welt der Physik)
S.C. Colbeck: Pressure melting and ice skating, Am. J. Phys. 63 (1995) 888.

Schlittschuhlaufen

Mit dem Thema des durchgeschnittenen Eisblockes ist das Schlittschuhlaufen verwandt. Zwischen den Kufen von Schlittschuhen und dem Eis befindet sich eine dünne Schicht Wasser, auf der die Schlittschuhe gleiten. Hier gibt es die entsprechende, häufig verbreitete Behauptung, dass das Eis unter den Schlittschuhen durch den ausgeübten Druck schmelze und dadurch die Wasserschicht entsteht.

Diese Erklärung ist ebenso falsch wie die analoge beim durchgeschnittenen Eisblock. Man nimmt stattdessen an, dass die Reibungswärme als auch das "Oberflächenschmelzen" die dünne Wasserschicht hervorrufen. Unter Oberflächenschmelzen versteht man die Bildung einer Wasserschicht ohne Einwirkung von Druck.

Schlittschuhlaufen: Warum ist Eis so glatt? (Welt der Physik)
Sind Eis-Oberflächen fest oder flüssig? (Uni Stuttgart)
S.C. Colbeck: Pressure melting and ice scating, Am. J. Phys. 63 (1995) 888
R. Rosenberg: Why is Ice Slippery? Physics Today 58 (2005) 50

Glas von Kirchenfenstern

"Glas ist nicht fest, es fließt, wie alte Kirchenfenster beweisen, die unten dicker sind als oben."

Stimmt auch nicht! Das Glas fließt nicht im Laufe historischer Zeiten nach unten. Die entsprechende Zeitskala ist sehr viel größer.

Die Unregelmäßigkeiten von Kirchenfenstern, sofern sie denn vorhanden sind, sind stattdessen das Resultat des Herstellungsprozesses.

Starre Fenster (Die Zeit)
Das Rätsel der fließenden Kirchenfenster (scinexx)
E.D. Zanotto: Do cathedral glasses flow? Am. J. Physics 66 (1998) 392-395
P.K. Gupta, E.D. Zanotto: Do cathedral glasses flow? — additional remarks Am. J. Phys. 67 (1999) 260-262.

Die Ganzzahligkeit des Bahndrehimpulses

In vielen Lehrbüchern der Quantenmechanik wird die Ganzzahligkeit des Bahndrehimpulses damit begründet, dass die Wellenfunktion stetig und eindeutig sein müsse. Da die Abhängigkeit vom Azimuthalwinkel φ durch exp( i m φ ) gegeben ist, wobei m die magnetische Quantenzahl ist, müsse also m ganzzahlig sein.

Dieses Argument geht fehl, wie schon Wolfgang Pauli gezeigt hat. Zwar muss das Betragsquadrat der Wellenfunktion stetig und eindeutig sein, nicht aber notwendigerweise die Wellenfunktion selbst. Man benötigt weitere Voraussetzungen über die Wellenfunktionen, um die Ganzzahligkeit des Bahndrehimpulses zu begründen.

W. Pauli: Über ein Kriterium für Ein- oder Zweiwertigkeit der Eigenfunktionen in der Wellenmechanik, Helv. Phys. Acta 12 (1939) 147
C. Noack: Bemerkungen zur Quantentheorie des Bahndrehimpulses, Physikalische Blätter 41 (1985) 283
G. Münster, Quantentheorie, 3. Auflage, de Gruyter, 2020

Vögel auf Hochspannungsleitungen


Foto: Dirk Wegener, Münster 2009 (www.rieselfelder-windel.de)
Vögel scheinen häufig auf Hochspannungsleitungen zu sitzen, ohne dass es ihnen etwas ausmacht. Physiker sind geneigt, hierfür Erklärungen abzugeben nach dem Muster: die Füße der Vögel sind so nahe beieinander, dass keine nennenswerte Spannung auftritt.

Quatsch! Vögel sitzen nicht auf Hochspannungsleitungen. Sie sitzen auf dem Erdseil, das keine Spannung führt. An der Oberfläche der Leiterseile treten starke Feldstärken auf, welche zu merklichen Vibrationen und Strömen im Körper führen würden, die einen Vogel sehr stören würden.

Gleichwohl kann man gelegentlich Vögel auf stromführenden Leitungen sitzen sehen. Es dürfte sich dann aber nicht um Hochspannungsleitungen handeln, denn ab ca. 60 kV wird es für die Vögel wirklich unangenehm.

A. Donges: Setzen sich Vögel wirklich auf Hochspannungsleitungen? MNU 53 (2000) 354
H.J. Schlichting: Hoch hinaus, Spektrum der Wissenschaft, Oktober 2010, S. 30 (In diesem Aufsatz gibt es ein paar Ungenauigkeiten. Es muss 60 kV statt 60 kW heißen, Aussagen zu den Leitungen stimmen nicht ganz und es sind in erster Linie die Koronaentladungen, welche den Vögeln zu schaffen machen.)

Der Brennglaseffekt beim Rasensprengen

Immer wieder hört und liest man, dass ein Rasen nicht in der Mittagssonne gesprengt werden soll, weil sonst die Halme aufgrund des "Brennglaseffektes" verbrennen würden. Mit dem Brennglaseffekt ist gemeint, dass die Wassertropfen wie kleine Linsen wirken und das Sonnenlicht wie eine Lupe auf dem Grashalm so bündeln, dass es im Brennpunkt sehr heiß wird und der Halm verbrennt.

Das ist allerdings ein hartnäckiger Mythos und trifft nicht zu. Die Wassertropfen auf den Halmen haben so gut wie nie die passende Gestalt, die nötig wäre, damit sie wie ein Brennglas wirken und der Brennpunkt auf der Unterseite des Tropfens und somit auf dem Grashalm läge. Zusätzlich müsste auch noch das Sonnenlicht genau den passenden Einfallswinkel aufweisen.

Sollte man vielleicht aus anderen Gründen den Rasen nicht in der Mittagssonne sprengen? Die Meinungen darüber gehen auseinander. Einige sagen, dass beim Sprengen mit kaltem Wasser der große Temperaturunterschied einen Kälteschock hervorruft, der dem Rasen schadet. Andere sagen, dass ein durstiger Rasen gerade in heißer Mittagszeit das Wasser besonders benötigt.

Kerze unter umgestülpten Glas

Ein beliebter Schulversuch geht so: eine brennende Kerze steht in einer Schüssel, die mit Wasser gefüllt ist. Die Kerze ragt natürlich über die Wasseroberfläche hinaus. Nun wird ein umgedrehtes Glas über die Kerze gestülpt. Diese verlischt bald und der Wasserpegel im Glas steigt. In vielen Texten findet man folgende Erklärung: die brennende Kerze verbraucht Sauerstoff, daher wird das Gasvolumen geringer, es entsteht ein Unterdruck und das Wasser steigt. Z.B. Bayerischer Bildungs- und Erziehungsplan (2003).

Kann das stimmen? Jein, ganz so einfach ist es nicht. Zwar wird Sauerstoff verbraucht, solange die Kerze noch brennt, aber dafür entsteht ja Kohlendioxid und Wasserdampf. Was ist also los? Nun, der Wasserdampf schlägt sich an der Wand des Glases nieder. Es verbleiben dann an Stelle eines Mols Sauerstoff ca. 2/3 Mol Kohlendioxid. Dieses Kohlendioxid löst sich teilweise im Wasser. Insgesamt wird das Gasvolumen tatsächlich geringer. Hinzu kommt die Abkühlung des Gases. Durch diese Vorgänge kommt ein Unterdruck zustande, der den Pegelstand zum Steigen bringt. Beim Freihandversuch, bei dem zu Anfang als Folge der Erwärmung Luft entweicht, trägt der thermische Effekt (Expansion und Kontraktion) deutlich zum Gesamteffekt bei.

J.B. Caplan, H.J. Gerritsen, J.S. LeDell: The Hidden Complexities of a "Simple" Experiment, The Physics Teacher 32 (1994) 310-314.
Eine Kerze fährt Aufzug (Experimentis).
M. Neidinger, L. Bauersfeld: Der Kerzenlift, 2. Platz im Bundeswettbewerb Jugend forscht 2013, Fachgebiet Physik.


Hinweise nehme ich gerne entgegen.
G. Münster