Louis Aragon  - Leben und Werk

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W.B.

Der französische Schriftfteller Louis Aragon  (* 3. Oktober 1897 in Paris + 24. Dezember 1982 ebenda) war Romancier, Lyriker, Essayist, Journalist, Politiker und - in gewissem Sinne - auch Historiker. Sein Bruch mit dem Surrealismus (1932), zu dessen Gründern er gehört hatte, seine Hinwendung zum Realismus in Kunst und Literatur seit Beginn der dreissiger Jahre des 20. Jahrhunderts, sein politisches Engagement in der Kommunistischen Partei Frankreichs, sein unkritisches Verhältnis zur Sowjetunion, sein leidenschaftliches Temperament, seine zugespitzten Formulierungen, seine Neigung zum sprachlichen Skandal machten ihn zu einem der umstrittensten Intellektuellen im Frankreich des 20. Jahhunderts. Gefeiert von den einen, gehasst von den anderen, ist Aragon ein "berühmter", wenn auch vielfach clichéhaft abgestempelter französischer Schriftfteller. Französische Gemeinden haben Strassen, U-Bahn-Stationen, Einkaufszentren, Schulen, Bibliothzeken, Mediatheken nach ihm benannt. Auf der öffentlichen Trauerfeier bei seinem Tod hielt der damalige französische Ministerpräsident die Trauerrede, Staatspräsident Pompidou genehmigte seine und seiner Frau Bestattung auf einem Privatgrundstück. Die französische Post brachte eine Briefmarke mit seinem Porträt (von Henri Matisse) heraus. Zahlreiche populär gewordene Chansons sind Vertonungen seiner Gedichte, gesungen von den bekanntesten Chanson-Sängern und -Sängerinnen Frankreixhs. Seine Werke gehören immer wieder zum offiziellen Lehr- und Prüfungsstoff an höheren Schulen und Universitäten. Eine Fülle literaturwissenschaftlicher Abhandlungen befasst sich mit seinem umfangreichen  Werk..

Aragons Leben: die Jahre 1897-1932


Louis Aragon war das aussereheliche Kind des Rechtsanwalts, Politikers, Zeitungsdirektors und zeitweiligen Pariser Polizeipräfekten Louis Andrieux (1841-1931) und einer jungen Südfranzösin mit italienischen Wurzeln, M;arguerite Toucas-Massillon (1873-1942). Um die die "bürgerliche" Moral verletzende Tatsache der ausserehelichen Geburt des Kindes vor diesem und vor den Freunden der Familie zu vertuschen, kam der verheiratete Louis Andrieux auf die Idee, seinem Sohn per Gerichtsbeschluss als Familiennamen den Namen der spanischen Region "Aragon" geben zu lassen, vielleicht, so meinen manche, in Erinnerung an die Zeit, die er als französcher Botschafter in Spanien verbracht hatte. Der Öffentlichkeit und dem jungen Louis wurde ein Lügengewebe aufgetischt: seine Mutter wurde als seine ältere Schwester ausgegeben, seine Grossmutter als seine Adoptivmutter, sein leiblicher Vater als sein Taufpate. Erst als Louis zum Militär eingezogen wurde, enthüllte ihm die Mutter die wahren Verwandtschaftsverhältnisse, die er freilich schon erahnt hatte.

Die finanzielle Situation der Familie war überdies dadurch prekär, dass Louis' Grossvater mütterlicherseits, Fernand de Biglione, Unterpräfekt in Guelma (Algerien), bereits vor Aragons Geburt seine Familie plötzlich vetrlassen hatte und diese dadurch zwang, sich mühsam durch das Leben zu schlagen, u.a. durch die Einrichtung einer Familienpension unweit des Arc de Triomphe. Die Hauptlast des Brotverdienens ruhte dabei auf den Schultern Marguerites, der Muztter Aragons, die später auch als Romanautorin und Übersetzerin tätig war.

Katholisch getauft, löste sich der Heranwachsende nach seiner Erstkommunion von dem ihm gelehrten Glauben in einem Reflexionsprozess, den der Romancier wiederholt in seinem Werk thematisieren wird. In seiner surrealistischen Periode und zu Beginn  seiner kommunistischen Periode gibt er sich militant atheistisch und antiklerikal, seit dem Zweiten Weltkrieg stellt er sich hinter die positiven Werte, die er in einem echten Christentum verkörpert sieht.

Schon als Kind war Louis ein grosser Leser, der nicht nur die von den Lehrplänen vorgechriebenen Autoren verschlang, sondern darüber hinaus Werke wie Dombey and Son von Charles Dickens, Jean-Christophe von Romain Rolland, Italienische Märchen von Maxim Gorki usw. Lesen hatte er schon vor dem Schulbesuch anhand von Fénelons Erziehungsroman Les Aventures de Télémaque gelernt. Sein Abitur machte er während des Ersten Weltkriegs. Nach (späten) eigenen Angaben wollte er Sprachwissenschaftler werden, erfüllte dann aber den Wunsch seiner Mutter, die ihren Sohn in einem "ordentlichen" Beruf mit sicherem Einkommen sehen wollte, und begann mit dem Studium der Medizin..

1917 wurde er eingezogen und erhielt im Pariser Militärhospital Val-de-Gtâce eine Ausbildung als Hilfsarzt ("médecin auxiliaire"). Dort lernte er den ebenfalls zu militärärztlicher Ausbildung abkommandierten ehrgeizigen jungen Dichter André Breton kennen, mit dem er auf der Grundlage gemeinsamer künstlerischer und literarischer Interessen und Ambitionen eine enge Freundschaft schloss, die bis 1932 andauern sollte. Gemeinsam wollten sie die Pariser Kulturszene, ja die Welt revolutionieren. Breton ging auf diesem Weg voraus: Zusammen mit Philippe Soupault verfasste er 1919 eine Reihe von Texten, die dank der Schnelligkeit ihrer Niederschrift der unmittelbare, unzensierte Ausdruck des individuellen  Unbewussten des Schreibenden sein sollten. Für diese spontane, der Zensur keiner moralischen oder sozialen Instanz sich unterwerfenden Art des Schreibens bürgerte sich der Begriff "écriture automatique" ("automatisches Schreiben") ein.. Die von Breton und  Soupault gemeinsam verfassten Texte erschienen 1920 unter dem Titel Les Champs magnétiques (Die Magnetfelder).. Aragon, der noch 1918 als Sanitäter in schwerem Fronteinsatz gewesen, ja dreimal verschüttet worden war, wurde im Sommer 1919 aus dem Militärdienst entlassen., ausgezeichnet mit dem Orden "Croix de guerre" ("Kriegskreuz"). Auch er experimentierte mit der Niederschrift automatischer Texte, mass ihnen jedoch nicht die zentrale Rolle bei, die Breton seinen eigenen automatischen Texten zuerkannte. Ein Grossteil von ihnen wurde sogar erst nach 1967 veröffentlicht.

Offen für (fast) alles, was in Vergangenheit und Gegenwart den Rahmen des Traditionellen in Literatur, Kunst, Moral sprengte, begeisterten sich die jungen Pariser Schriftsteller für andere rebellische Schriftfteller der Gegenwart und Vergangenheit wie Arthur Rimbaud, Isidore Ducasse (Comte de Lautréamont), den Marquis de Sade, aber ebenso für Maler wie Henri Matisse, Pablo Picasso, den "Zöllner" Théodore Rousseau. Sie entdeckten Sigmund Freud. So entgingen ihnen auch nicht die Aktivitäten der Dada-Bewegung, die 1916 vorwiegend von jungen ausländischen Emigranten (Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck, Hugo Ball...) in Zürich gegründet worden war, Leuten, die die bestehende, immer wieder zu Kriegen führende soziale und ästhetische Ordnung durch die Konstruktion absurder Texte und durch spektakuläre Happenings radikal in Frage stellen wollten. Die Pariser Dichter sympathisierten mit der Weltsicht und dem öffentlichen Auftreten der Züricher Rebellen. Nicht nur begannen sie, Gestus und Stil der Dadaisten nachzuahmen, sondern liessen auch im Januar 1920 das Haupt dieser Gruppierung nach Paris kommen, den jungen Rumänen Tristan Tzara, mit dem sie in den folgenden zweieinhalb/drei Jahren eine Reihe gemeinsamer Veranstaltungen durchführten, aber auch Konflikte austrugen,  die im Frühjahr 1923 gar in öffentlichen Prügelszenen und im (vorläufigen) Bruch zwischen den Parisern und Tzara kulminierten.

Breton, Soupault, Aragon blieben nicht allein, Gleichgesinnte schlossen sich ihnen an. Neben dem automatischen Schreiben unternahm man andere Versuche, das Unbewusste manifest zu machen. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Wiedergabe von Träumen ("récits de rêves", "Traumberichte") und das Sprechen in hypnotischem Schlaf, teilweise als Antwort auf Fragen, die dem Schlafenden gestellt wurden. Man gründete eine Zeitschrift, die die neuen Ideen illustrieren und verbreiten, aber auch noch einen gewissen Kontakt mit der anerkannten zeitgenössischen Literatur aufrecht halten sollte. Als Titel dieser von 1919 bis 1924 erschienenen Zeitschrift wählte man ironischerweise.Littérature. Im Jahre 1924 hielten Aragon und Breton die Zeit für gekommen, ihren Aktivitäten einen offiziellen Namen und eine theoretische Grundlage zu geben. Aragon tat dies in poetischer Prosa mit seinem Essay Une vague de rêves (Eine Traumwoge), dessen Titel bereits andeutet, was er damals in den Mittelpunkt der neuen Bewegung stellte. André Breton seinerseits verfasste einen umfangeichen, quasi wissenschaftlichen Traktat, dem er den Titel Manifeste du surréalisme (Manifest des Surréalismus) gab. Damit hatte man sich endgültig auf eine Bezeichnung festgelegt ("surréaliste" bzw. "surréalisme"), die von Apollinaire stammte und im öffentlichen Diskurs längst schon auf die neue Literatengruppe angewandt worden war.

Immer stärker bildete sich als Zielsetzung der surrealistischen Bewegung die Verwirklichung der "Revolution" heraus, die als gewaltsame, totale Umstürzung der bürgerlich-westlichen, christlich geprägten Gesellschaftsordnung sowie als totale Umwandlung des Individuums begriffen wurde. Literatur und Kunst sollten nicht um ihrer selbst willen gepflegt werden, sie sollten vielmehr als Instrumente im revoliutonären Kampf dienen. Diesem Gedanken der "Instrumentalisierung" der Literatur - wobei  die  "Instrumentalisierung" ganz unterschiedliche Ausprägeformen annehmen kann - wird Aragon zeit seines Lebens anhängen, ohne allerdings diesen Ausdruck zu verwenden. Breton und Aragon rufen nach Vernichtung der westlichen Kultur durch einen von ihnen mit verblüffender Naivität ins Mythische erhobenen "Osten". Ihrer neuen, Littérature ablösenden Zeitschrift  gaben sie den programmatischen Titel La Révolution surréaliste (1924-1929); ihr "gérant" (Geschäftsführer ) war Louis Aragon.

Unter dem Eindruck der Wiederkehr des verhassten Krieges in Gestalt des französischen Marokko-Krieges (1925) verschärfte sich die Politisiertung der surrealistischen Gruppe. Insbesondere stellte sich die Frage, ob es nicht notwendig oder sinnvoll sei, als Gruppe mit der pazifistisch orientierten Kommunistischen Partei Frankreichs ( Parti communiste - Section française de l'Internationale communiste - SFIC) zusammenzuarbeiten. Diese Frage wurde schliesslich individuell-pragmatisch dadurch beantwortet, dass mehrere Surrealisten in die Partei eintraten. Aragon vollzog diesen Schritt am 6. Januar 1927. Im Gegensatz zu André Breton, Paul Éluard und anderen, die die Partei alsbald wieder verliessen, blieb er bis zu seinem Lebensende ihr aktives Mitglied.. Die rigiden Partei-Strukturen konnten für den radikalen jungen Intellektuellen kein Hindernis sein, hatte er selbst doch vorher bereits für die surrealistische Gruppe die strukturellen Grundlagen einer noch namenlosen, aber konspirativ arbeitenden revolutionären Kaderorganisation entworfen und das Projekt seinen Freunden zur Billigung vorgelegt.

Aragon nahm an den meisten Aktivitäten der Surrealistengruppe teil. Seine Texte bestätigen jedoch auch die These, dass diese Gruppe keine homogene Kameradschaft mit einheitlicher stilistischer Ausrichtung war , sondern dass es sich um den Zusammenschluss von ehrgeizigen, selbstbewussten jungen Männern mit stark ausgeprägten individuellen Zügen handelte, deren Schreiben sich also von Person zu Person, von Dichter zu Dichter unterschied. Vermutlich war ihnen neben einer atheistischen und antiklerikalen Grundhaltung nur der Glaube an die fundamentale Bedeutung des Unbewussten und an die  wie auch immer verstandene "Revolution" gemeinsam. Schon in Fragen der Sexualität waren sie sehr unterschiedlicher Meinung, was insbesondere eine gruppeninterne Umfrage (1928) bezeugt, in der Breton die Homosexualität scharf verurteilt, während Aragon sie als eine sexuelle Aktivität unter anderen gelten lässt.. Es ist aso ganz normal, dass es bemerkenswerte Unterschiede zwischen Aragons Texten und denen anderer Surrealisten gibt, was auf die Vielfältigkeit des Surrealismus verweist, nicht jedoch auf Aragons Nicht-Dazugehörigkeit, wie es später gelegentlich behauptet wurde.

Trotz seinen vielseitigen Aktivitäten in der surrealistischen Bewegung betrachtete Aragon die Entwicklung des Surrealismus mit kritischem Auge In seinem mit grosser Verve geschriebenen  Traité du style (1928; Traktat über den Stil) weist er auf verschiedene grundsätzliche Gefahren hin, die den Surrealismus von innen her bedrohen und zu seinem Verfall führen könnten. Er greift insbesondere die verschiedenen Spielarten des Eskapismus an: den Aufbruch in die Ferne, die Reise, das Abenteuer, die religiösen Praktiken, die Drogen. "Il n'y a de paradis d'aucune espèce.!" ("Es gibt keinerlei Art von Paradies!") Alle Paradiese seien künstliche. Es gibt keinen Ausweg aus der conditio hunana. Auch der (mit grossem Respekt betrachtete) Selbstmord ist keine Lösung. Aus dieser Phase eines existenzbedrohenden Pessimismus sollte Aragon einerseits durch die Entdeckung der kommunistischen Sinngebung des Daseins und andererseits durch die Begegnung mit einer Frau, der russischen Schriftstellerin Elsa Triolet, wenigstens teil- oder zeitweise herausgeführt werden..

Aragons finanzielle Siruation war in den zwanziger Jahren stets prekär . So bestritt er, nachdem er im Januar 1922 das Medizinstudium abgebrochen hatte, seinen Lebensunterhalt eine Zeitlang mit einem Stipendium, das ihm der Modeschöpfer, Kunstliebhaber, Bibliophile und Mäzen Jacques Doucet gewährte; als Gegenleistung musste Aragon für ihn Texte schreiben, unter anderen über das aktuelle literarisch-künstlerische Leben in Paris, wie er es aus eigener Anschauung erfuhr.Diese spritzig-ironischen, kein Blatt vor den Mund nehmenden Texte wurden, sofern erhalten, erst 1994 von Marc Dachy unter dem von Aragon schon 1922 vorgesehenen Titel Projet d'histoire littéraire contemporaine (Entwurf einer zeitgenössischen Literaturgeschichte) veröffentlicht.. Aragons Tätigkeit als Chefredakteur der kulturellen Wochenzeitschrift Paris-Journalwar von kurzer Dauer (von Anfang März bis Ende April 1923); die Ausübung eines regelrechten "bürgerlichen" Berufs widersprach der surrealistischen Lebensform. Das (scheinbare) Scheitern seiner Bemühungen, mit dem Verkauf eines Braque-Gemäldes zu Geld zu kommen, war einer der Gründe  für seinen Selbstmordversuch  (Venedig, Herbst 1928). Um 1930 zog er gleichsam als Handelsvertreter von Modehaus zu Modehaus, um dort Schmuck zu verkaufen, den seine Lebensgefährtin Elsa Triolet hergestellt hatte.. Wie bei anderen Schriftstellern war gelegentlich der Verkauf von Manuskriptseiten (Autographen) an finanzkräftige Sammler eine  wichtige Geldquelle.Von seinen Büchern konnte er nicht leben. Im April 1933 erhielt er eine Anstellung als Redakteur der Parteizeitung L'Humanité, blieb dort aber nur nis Mai 1934.

Aragon liebte die Frauen, auch in Gestalt der Prostituierten. Heute weiss man, dass vier herausragende weibliche Petsönlichkeiten, drei von ihnen Ausländerinnen, ihn nachhaltig beeinflusst haben:
  1. die Amerikanerin Elizabeth Eyre de Lanux (1894-1996): Künstlerin, Schriftftellerin, Möbeldesignerin; Geliebte mehrerer bekannter Männer und Frauen. Sie erscheint im Schlusskapitel des Paysan de Paris als "Dame des Buttes-Chaumont" und verkörpert den "Übergang von der Frau [der Frau als Gattungswesen] zu dieser Frau [der Frau als einmaligem Individuum]".
  2. die Elsässerin Denise Lévy, geb. Kahn, verh. Naville (1896-1969); Cousine von André Bretons erster Frau Simone Kahn; Übersetzerin zahlreicher poetischer und politischer Texte, besonders aus dem Deutschen; wird unter dem Einfluss ihres Freundes bzw. Ehemannes Pierre Naville Trotzkistin; gibt das reale Vorbild für die Gestalt der Bérénice in dem Roman Aurélien ab.
  3. die Engländerin Nancy Cunard (1896-1965) aus der Familie der Cunard Line Erben; die exzentrische Frau lässt Aragon die "grosse Welt" kennenlernen, und verkehrt in Gesellschaftskreisen, denen der Dichter finanziell nicht gewachsen ist.
  4. die Russin Elsa Triolet, geb. Kagan (1896-1970), eine Schriftstellerin (Romane, Erzählungen, Essays, Übersetzungen aus dem Russischen), die Aragon im Oktober 1928 in Paris kennenlernt. Zunächst seine Lebensgefährtin, heiratet Aragon sie Ende Februar 1939. Sie ist die grosse Liebe seines Lebens. Elsa Triolet ist die Schwester von Lili (Lilja) Brik, der wichtigsten Lebensgefährtin des sowjetischen Dichters Wladimir Majakowskij, weswegen Elsa Triolet gern auch als Schwägerin Majakowskijs bezeichnet wird.
Trotz seiner Verherrlichung der Frau und der Liebe zu ihr und trotz seiner heterosexuellen Praktiken (auf die er selbst verweist) wollen manche heutige Literaturforscher schon beim frühen Aragon eine Neigung zur Homosexualität feststellen; allerdings gibt es hierfür keine stichhaltigen mündlichen oder schriftlichen Belege. Dass er die Homophobie André Bretons nicht teilte, ja sie energisch zurückwies, bezeugt seine Liberalität, nicht aber notwendigerweise eine eigene homosexuelle Neigung. Eine solche wird nach Elsa Triolets Tod (1970) in Erscheinung treten und unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Wie weit Aragons vermutliche Bisexualität für die Interpretation seines Werkes von Bedeutung ist, wurde bisher nicht nachgewiesen.

Seit 1929/30 kriselt es in der Surrealistengruppe aus ideologischen Gründen. 1930 nimmt Aragon zhusammen mit Georges Sadoul am internationalen Schriftftellerkongress in Charkow teil. Die beiden Franzosen sehen sich genötigt, sich in zwei wichtigen Fragen (Freudismus, Trotzkismus) schriftlich von der offiziellen Position der Surrealisten zu distanzieren. 1932 kommt es zwischen Aragon und Breton zum Bruch, der vordergründig durch Bretons Schrift Misère de la poésie (1932; Elend der Poesie) ausgelöst wird, aber tiefer liegende Gründe hat, z.B. die sich herausbildende unterschiedliche ideologische Parteinahme der beiden Freunde: Aragon für Stalin, Breton für Trotzki, Aragon für den Realismus, Breton für den Surrealismus, usw.


Aragons Werk bis 1932

Aragon tritt Ende 1919 mit einem schmalen Gedichtband in die französische Literatur ein. Feu de joie (Freudenfeuer) enthält 23 meist kurze poetische Texte, Gedichte, die, von Emotion und Ironie geprägt, das Lebensgefühl eines jungen Menschen zum Ausdruck bringen, der gerade dem Kriege entronnen ist. Mit Dada haben sie nichts zu tun. Es gelingt Aragon, von Picasso eine Grafik für das Titelblatt zu erhalten.

Gleichzeitig vollendet Aragon seinen an der Front begonnenen ersten Roman Anicet ou le panorama, roman (1921; Anicet oder das Panorama, Roman), eine teilweise burleske, teilweise kriminalistische Geschichte, in der sich die Verehrer der "modernen Schönheit" als Angehörige einer Verbrecherbande erweisen. In diesem Erstlingsroman, der in seiner Anlage stark vom Filmischen beeinflusst ist, behandelt Aragon u.a. ästhetische Probleme und stellt die für die Existenz des Mannes eminente Rolle der Frau und der Liebe programmatisch heraus, eine Thematik, die Aragons gesamtes Werk durchziehen wird.

Es folgt 1922 Les Aventures de Télémaque (Die Abenteuer des Telemach) , eine moderne Kurzversion der auf Homers Odyssee und Fénelons Les Aventures de Télémaque zurückgehenden Schilderung des Aufenthaltes Telemachs, des Sohnes des Odysseus, bei der Nymphe Kalypso, der Ex-Geliebten seines Vaters. Der dank seiner Bildersprache hochpoetische, eine "surrealistische" Welt konstruierende Text ist mit provokanten Dada-Manifesten Aragons durchsetzt. Der schmale Band zeugt vom damaligen radikalen Nihilismus des Autors, gleichzeig aber auch von dessen poetischer Potenz zur Zeit des Übergangs von Dada zum Surrealismus.

Schon das Kind Louis schreibt (oder diktiert) kurze Erzählungen, von ihm als "Romane" bezeichnet. Einen dieser "Romane", die er als Sechs- oder Siebenjähriger verfasst hatte, "Quelle âme divine!" ("Welch göttliche Seele!"), nimmt er  in den Band von Erzählungen auf, den er 1924 unter dem Titel Le Libertinageveröffentlicht und in dem sich die Texte befinden, die er zwischen 1920 und 1923 geschrieben hatte, also zur Pariser Blütezeit von Dada. Es sind  Erzählungen (und zwei Theaterstücke), die von unterdrückten oder frei ausgelebten menschlichen Leidenschaften handeln, von ästhetischen und moralischen Aussenseitern, von Egoisten, Schurken, negativen Helden, von Vertretern des "homme moderne" ("modernen Menschen"), den - Aragon zufolge - Amoralismus und Menschenverachtung kennzeichnen. Eine Variante dieses "homme moderne" ist auch die emanzipierte Frau, die insbesondere in der Erzählung "Madame à sa tour monte" ("Madame steigt auf ihren Turm") und in der monologischen Erzählung "La femme française" ("Die Französin") in Erscheinung tritt. Diese von der Kritik (in Deutschland von dem Romanisten Ernst Robert Curtius) hochgeschätzte Erzählung ist der Form nach eine Art Tagebuch, in dem eine verheiratete Frau ihre Wünsche, Sehnsüchte, Überlegungen, Liebesabenteuer ungefiltert zur Sprache bringt. Eine Frau dieses Typs ist das Gegenstück zur leidenden, passiven, dienenden Frau, die dem Manne hörig ist bis in den von ihm für sie gewollten Tod, - ein Frauenbild, das in dem Theaterstück"Au pied du mur" ("In die Enge getrieben") von der Gestalt der Mélanie verkörpert wird..Die Texte des Bandes sind in sehr unterschiedlichen Schreibtechniken verfasst.

Seinen erzählerischen Texten schickt Aragon in Le Libertinageein provokativ-aggressives Vorwort voraus. Diese "Préface à l'édition de 1924" ("Vorwort zur Ausgabe von 1924") setzt sich aus mehreren teils schon in Zeitschriften vorab publizierten Prosatexten zusammen und ist nicht nur ein Generalangriff auf traditionelle französische  Werte wie die berühmte "clarté française" ("französische Klarheit"), sondern vor allem auch ein Plädoyer für "Le scandale pour le scandale" ("Skandal um des Skandales willen"). mit dem Bekenntnis des Autors: "Je n'ai jamais cherché autre chose que le scandale et je l'ai cherché pour lui-même" ("Ich habe nie etwas anderes gesucht als den Skandal, und ich habe ihn um seiner selbst willen gesucht.") Das Vorwort enthält gleichzeitig einen Appell zur "défense de l'infini" ("Verteidigung des Unendlichen"), eine Formel, die Aragon zum Titel seines unvollendeten Romans La Défense de l'infini machen wird.

Zwei Jahre später, 1926, veröffentlicht Aragon seinen zweiten Gedichtband, Le Mouvement perpétuel (Perpetuum mobile), der die seit Feu de joie verfassten Gedichte enthält. Vor allem aber erscheint 1926  Le Paysan de Paris (Der Pariser Bauer) - nach einem Vorabdruck in Philuppe Soupaults Zeitschrift La Revue européenne - als Buch. Le Paysan de Paris ist - neben dem unvollendeten Roman La Défense de l'infini- das surrealistische Hauptwerk Aragons, Es setzt sich aus vier Teilen zusammen. Während der erste und der vierte Teil von vorwiegend abstrakt-philosophischem Charakter sind, schildern die beiden mittleren Teile auf anschaulich-poetische Weise zwei Spaziergänge, die ebenfalls philosophisch deutbar sind: einen durch  die "Passage de l'Opéra" kurz vor der Zerstörung dieser Passage durch den um sich greifenden Urbanismus, und einen nächtlichen Spaziergang mit befreundeten Surrealisten über die Buttes-Chaumont, eine grosse Parkanlage im Nordosten von Paris. Das Buch verfestigt eine bestimmte Ausrichtung des Surrealismus, nämlich auf die Träume, auf das "merveilleux quotidien" ("das Wunderbare im Alltäglichen"), auf die - wie Drogen berauschenden - sprachlichen Bilder, auf die Liebe und die Frau, sowie auf die aus der modern-technischen Welt ausgeschlossene Subjektivität. Im deutschsprachigen Raum hat das Werk in Walter Benjamin einen begeisterten Leser gefunden.

In den Jahren, in denen Aragon Le Paysan de Paris schrieb, arbeitete er also ebenfalls an einem Roman, der die Welt als ein grosses Bordell darstellen sollte. Als Titel wählte er La Défense de l'infini (Die Verteidigung des Unendlichen); offenbar wollte er die Aufgabe, nach deren Erfüllung er im Vorwort von 1924 zu Le Libertinagegerufen hatte, selbst übernehmen. Doch letzten Endes zog er es vor, anlässlich eines Aufenthalts in Madrid (1928) sein Manuskript, das angeblich schon tausend Manuskriptseiten umfasste, grossen Teils zu verbrennen, u.a. wohl, um sich der Verwerfung der Gattung Roman seitens seiner surrealistischen Freunde anzuschliessen. Der Nachwelt erhalten sind solche Teile des Romans, die Aragon bereits an bibliophile Manuskript-Sammler verkauft oder selbst veröffentlicht hatte oder die Nancy Cunard an sich genommen hatte. Zu den geretteten Texten gehört Le Con d'Irène (Irenes Möse), eine umfangreiche, in sich abgeschlossene Erzählung, die 1929 - mit sexuell eindeutigen Illustrationen des surrealistischen Malers André Masson versehen -  anonym "sous le manteau" ("unter dem Ladentisch") erschien. Aragon hat sein ganzes Leben hindurch die Autorschaft an diesem erotischen Text - von dem nach dem Zweiten Weltkrieg auch mehrere Nach- oder Raubdrucke veröffentlicht wurden, teilweise unter dem Pseudonym Albert de Routisie -  in der Öffentlichkeit abgestritten. Aragon-Forscher - als erster Édouard Ruiz, dann Lionel Follet und Daniel Bougnoux - haben die erhalten gebliebenen Textfragmente seit 1987 publiziert; diese lassen vermuten, dass der Roman La Défense de l'infini das Hauptwerk Aragons in seiner surrealistischen Periode hätte werden können. In gewisser Weise lebt es insofern in Aragons späterem Werk weiter, als hier immer wieder auf Themen und Motive zurückgegriffen wird, die bereits im unvollendeten Roman zu finden sind.

Neben seinen Prosatexten , zu denen auch die zahlreichen Rezensionen und sonstigen Artikel zu rechnen sind, schreibt Aragon weiterhin Gedichte. Es erscheinen La Grande Gaîté (1928; Die grosse Heiterkeit), sein pessimistischstes, negativstes Buch, und Persécuté persécuteur (1931; Der verfolgende Verfolgte), das Aragons Übergang von der Verwerfung der bürgerlichen Welt zum revolutionären, klassenkämpferischen Kommunismus dokumentiert. Endpunkte dieses Weges stellen zwei provozierende, wiederum auf Skandal ausgerichtete Gedichte dar: "Le temps des cerises" ("Die Kirschenzeit") und "Front rouge" ("Rotfront"). Mit "Le temps des cerises" greift Aragon als Collage den Titel eines populären Liedes aus der Zeit der Pariser Kommune auf ; das neue Lied endet mit dem Ruf nach einer GPU für Frankreich. Das umfangreiche Gedicht "Front rouge" (1931) ist ein Aufruf zur bolschewistischen Revolution in Frankreich, ein höchst aggressiver, gegen Bourgeoisie und Sozialisten gerichteter Text, der Aragon die Einleitung eines juristischen Verfahrens gegen ihn einbrachte; er wird beschuldigt "der Anstiftung von Soldaten zum Ungehorsam und des Aufrufs zum Mord zwecks anarchistischer Propaganda". Dieser Schritt der Justiz führte in den intellektuellen Kreisen zu Parteinahmen pro und contra Aragon : die "Affaire Aragon" war ausgebrochen. Die Tatsache, dass Breton Aragons  Gedicht in Misère de la poésie (1932; Elend der Poesie) als "Gelegenheitsgedicht ("poème de circonstance") und damit als Ausdruck einer altmodischen, , historisch überholten Ästhetik qualifizierte, hat zur Entfremdung zwischen den beiden Freunden beigetragen und den Bruch uwischen ihnen vorbereitet. Aragon hatte in seinem polemischen Traité du style (1928; Traktat vom Stil) kritische Äusserungen zur Entwicklung des Surrealismus getan, aber treu zu Breton gestanden, als dieser im Second Manifeste du surréalisme (1929; Zweites Manifest des Surrealismus) den Ausschluss alter Weggefährten aus der surrealistischen Bewegung begründete. Als die Dissidenten mit dem Pamphlet "Un cadavre" ("Ein Kadaver", gemeint ist Breton) Front gegen André Breton bezogen, unterzeichnete Aragon eine Solidaritätserklärung für seinen autoritären Freind.

Leben und Werk 1932-1939

In diesen Jahren verstärkt sich Aragons Engagement in der kommunistischen Weltbewegung, an deren Spitze Stalin steht. Mehrmals weilt er - nach der ersten Reise von August bis Dezember 1930 - in der Sowjetunion: von Juni 1932 bis März 1933 (er gibt dort die französische Fassung der Zeitschrift La Littérature internationale heraus), von August 1934 bis Februar 1935 (im August 1934 nimmt er, mit anderen französischen Schriftstellern, am ersten Kongress des sowjetischen Schriftftellerverbandes teil), von Juni bis Ende August/Anfang September 1936 (er nimmt an der Beisetzungsfeier für den Schriftsteller Maxim Gorki teil). Er wird Zeuge der ersten grossen Terrorwelle, der u.a. der damalige Lebensgefährte Lilis, der Schwester Elsa Triolets, zum Opfer fällt.

Im April 1933 (nach anderen Angaben etwas später, Mai oder Juli 1933) wird er Redakteur und Reporter der Parteizeitung L'Humanité , die ihn zunächst nur mit der Rubrik "Verschiedenes" betraut Ein Grossteil seiner Artikel erscheint unsigniert. In der Partei herrscht der intellektuellenfeindliche Ouvrierismus. Ende Februar 1935 (nach anderen Angaben bereits im Juli 1933 oder im Mai 1934) wird er von seiner Tätigkeit bei L'Humanité entbunden, um sich - zusammen mit dem Journalisten und Romancier Paul Nizan - ganz der Tätigkeit als Redaktionssekretär der Monatszeitschrift Commune widmen zu können. Diese erscheint seit Juli 1932 als Organ der neu gegründeten Association des Écrivains et Artistes Révolutionnaires (AEAR). Sie veröffentlicht bis 1939 (im September wird sie wie die gesamte kommunistische Presse von der französischen Regierung verboten) zahlreiche Beiträge Aragons. Zuerst - mit Paul Nizan - einer der beiden Redaktionssekretäre, wird Aragon später Mitglied des Herausgebergremiums und schliesslich einer der beiden Herausgeber (directeurs), - der andere ist Romain Rolland..Die Zeitschrift führt von 1936 bis 1939 den Untertitel Revue littéraire française pour la Défense de la Culture, der auf den Namen des Congrès international des Écrivains pour la Défense de la Culture verweist, der im Juni 1935 in Paris stattgefunden hatte und an  dessen Organisation Aragon führend beteiligt war. Er wird Sekretär der aus dem Kongress hervorgegangenen Association Internationale des Écrivains pour la Défense de la Culture und Generalsekretär der Association des Maisons de la Culture. Von Anfang März 1937 bis zu ihrem Verbot Ende August 1939 ist Aragon (mit dem Schriftsteller Jean-Richard Bloch) Directeur und Chefredakteur der 1937 gegründeten kommunistischen Abendzeitung Ce soir, die durch gefällige Gestaltung und ansprechende Inhalte auch liberalen bürgerlichen Kreisen die antifaschistische Politik der französischen KP nahebringen soll. Aragons Kommentare zur politischen Entwicklujg in Europa, insbesondere seine tägliche Kolumne "Un jour du monde" (seit dem 22. September 1938) sind hoch interessant; sie harren noch einer kritischen Edition und wissenschaftlicher Aufarbeitung.

Während all dieser Jahre des Kampfes für die Kultur war der Gegner der internationale Faschismus und ganz besonders der deutsche Nationalsozialismus. Nach dem Vorspiel des italienischen Abessinien-Krieges (1935), der zu einer ersten öffentlichen Spaltung der französischen Schriftfteller führte, brachte der spanische Bürgerkrieg (1936-1939) das Kriegsgetümmel bis vor die Tore Frankreichs. Wieder bezogen die französischen Intellektuellen ihr jeweiliges ideologische Lager. Aragon unterstützte - wie der grösste Teil der Linken - die von Franco angegriffene Republik. Er tat dies täglich mit seiner Zeitung Ce soir sowie mit kulturellen Veranstaltungen in ganz Frankreich. Diese Unterstützung erreichte einen Höhepunkt im Oktober 1936, als Aragon und Elsa Triolet , begleitet von zwei deutschen Emigranten, Gustav Regler (1898-1963) und Kurt Stern (1907-1959), im Lastwagew nach Spanien reisen (Barcelona, Madrid, Valencia, Madrid), um Geschenke der Association Internationale des Écrivains pour  la Défense de la Culture zu überbringen: einen Filmprojektor und einen Drucker. Elsa wird diese Reise in einem erst 2001 veröffentlichten Text Dix jours en Espagne (Zehn Tage in Spanien) beschreiben. Aragon unterstützt also durch diese Reise und durch seine mannigfaltigen publizistischen Aktivitäten den Kampf der spanischen Republik auf moralisch-ideologischer Ebene, er hat aber nicht in militärischem Sinn in Spanien "gekämpft", wie in einigen Lexika zu lesen ist und wie es vermutlich André Malraux tat.

Aragon sah sich wie seine Zeitgenossen mit den grossen Niederlagen des Antifaschismus konfrontiert: dem "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich (12. März 1938), das Münchener Abkommen (29. September 1938), die Besetzung der Rest-Tschechoslovakei (März 1939). Er hütete sich vor der Gleichsetzung des ganzen deutschen Volkes mit den Nazis. Er verteidigte die Idee, dass es neben dem offiziellen Deutschland das "andere" Deutschland gibt. So veröffentlichte er z.B. Heinrich Manns Henri Quatre als Fortsetzungsroman in Ce soir. Ergreifend ist seine grosse Rede "Reconnaissance à l'Allemagne" ("Dank an Deutschland") von 1939. Umso grösser sollte seine Enttäuschung sein, als er im Krieg feststellen musste, dass es in Deutschland keinen nennenswerten Widerstand gegen das Regime gab, ja dass der Grossteil der deutschen Bevölkerung Hitlers Aktionen mittrug.(siehe unten)

Als der unerwartete Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes  (23. August 1939) tiefe Unruhe gerade auch bei den französischen Kommunisten hervorrief, verteidigte Aragon in Ce soir den Pakt in illusionärer Verkennung der Fakten und in Unkenntnis des geheimen Zusatzprotokolls als Sieg des Friedenswillens Stalins gegenüber dem nun in seinen Kriegsabsichten angeblich gebremsten Hitler. Der blinde Glaube an Stalin, den Aragon mit zahlreichen Intellektuellen teilte, eine gewisse jakobinische Tradition, die Liebe zu Russland als dem Heimatland Elsas, das Damoklesschwert der Verhaftung, das über seiner Schwägerin Lili Brik schwebte, eine grenzenlose Leichtgläubigkeit, ein Hang zu Provokation und Skandal, all das liess Aragon über die negativen Seiten des sowjetischen Systems hinwegsehen, sie leugnen oder sie rechtfertigen. So konnte er manchmal als Sprachrohr der UdSSR erscheinen, etwa in dem Artikel "Vérités élémentaires" ("Elementare Wahrheiten") von 1936, in dem er die berüchtigten Moskauer Prozesse verteidigte. Später hat sich Aragon von manchen seiner Äusserungen explizit distanziert, sie aber auch nicht zu vertuschen gesucht.

Die dreissiger Jahre, die - zumal nach der Bildung der Volksfrontregierung (1936) - Aragons ganzen politisch-publizistischen Einsatz verlangten, waren literarisch auch die Jahre, in denen er neben einem Gedichtband Hourrah l'Oural (1934; etwa Es lebe der Ural)  drei umfangreiche realistische Romane verfasste: Les Cloches de Bâle (1934; Die Glocken von Basel), Les Beaux Quartiers (1936; Die feinen Viertel; in der deutschen Übersetzung von Stephan Hermlin Die Viertel der Reichen betitelt) , Les Voyageurs de l'impériale (1939 abgeschlossen, 1942 veröffentlicht; Die Reisenden auf dem Oberdeck;in der deutschen Übersetzung von Hans Mayer Die Reisenden der Oberklasse betitelt). Für Les Beaux Quartiers erhielt Aragon den renommierten Prix Renaudot.Auffällig ist, dass die drei Werke zwar die politisch links orientierte Grundeinstellung ihres Autors erkennen lassen, dass aber das Ideologische dem Literarischen stets untergeordnet wird. Der Leser hat nicht den Eindruck, dass er das Werk eines militanten Kommunisten liest; eher könnte er den Eindruck gewinnen, dass hier die Gesellschaftsdarstellung und -kritik eines Émile Zola ihre moderne Fortsetzung und elegante Neufassung findet. In Les Cloches de Bâle folgt der Leser denWegen einer jungen Frau, Catherine Simonidze, die sich aus ihrem bürgerlichen Milieu lösen will und sich nach mancherlei Emanzipationsversuchen der Arbeiterklasse nähert. Les Beaux Quartiersschildert die Irrungen und Wirrungen zweier aus bürgerlichem Milieu stammenden Brüder, von denen der eine, Edmond Barbentane, durch Geschick, Gerissenheit und Skrupellosigkeit eine profitable, aber moralisch verwerfliche  gesellschaftliche Karriere macht, während der andere, Armand Barbentane, nach seiner Bekanntschaft mit den Härten des Arbeiterlebens der Gewerkschaft beitritt, d.h. - in der moralischen Perspektive des Romans - einen positiven Akt vollzieht. Derselben bürgerlichen Familie entsprossen,  gehen die beiden also völlig getrennte Wege und beweisen damit, dass der Mensch von seiner Herkunftsklasse moralisch nicht determiniert wird., sondern frei Entscheidungen fällen kann.

Aragons dritter Roman trägt den Titel Les Voyageurs de l'impériale. Wörtlich genommen, bezeichnet dieser Ausdruck die Menschen, die auf dem Oberdeck eines zweistöckigen Omnibusses sitzen. Metaphorisch sind damit die Angehörigen einer Gesellschaft gemeint, die ihr Leben, d.h. die Reise in den Tod, verbringen, ohne  zur Kenntnis zu nehmen, welche Kräfte, welche Maschinen und Mechanismen da unten der Fortbewegung zugrunde liegen. Die deutsche Übersetzung mit "Die Reisenden der Oberklasse" gibt dem Titel einen völlig anderen Sinn. Der Roman, ein grosses Epos, in dem sich auch Kindheit und Jugend Aragons und die Geschichte seiner Familie spiegeln, freilich nach dem Prinzip des "mentir-vrai", des "Wahr-Lügens", verfremdet, wurde unmittelbar vor Kriegsausbruch beendet. Er erschien zuerst in englischer Übersetzung in den Vereinigten Staaten (1941), was Aragon bis zum Kriegseintritt der USA die so dringend benötigten Tantièmen einbrachte. Im Dezember 1942 erschien bei Gallimard in Paris eine französischsprachige Ausgabe, jedoch in einer verstümmelten Fassung, für die wohl Jean Paulhan, der ehemalige Herausgeber der Zeitschrift La Nouvelle Revue française, verantwortlich war, dem die Veröffentlichung des Werkes ein dringendes Anliegen war und der daher durch vorauseilende Eingriffe in den Text die Genehmigung der deutschen Militärzensur zur Veröffentlichung des Romans sicherstellen wollte. Die korrekte französische Fassung liess Aragon 1947 erscheinen; diese ersetzte er 1966 durch eine neu bearbeitete definitive Version..

Aragon gibt seinen Romanen seit Les Beaux Quartiers  den übergeordneten Titel Le Monde réel (Die wirkliche Welt). Dieser Romanzyklus umfasst ausser den eben genannten drei Romanen noch die in den vierziger und fünfziger Jahren verfassten Romane Aurélien (1944) und Les Communistes (1949-1951; Die Kommunisten).

Aragon stellt seine Romane als französische Beispiele für den "sozialistischen Realismus" hin, eine ideologisch-literarische Richtung, die  seit 1934 in der Sowjetunion zum einzig erlaubten und geförderten Schreibmodus geworden war. In mehreren Artikeln, die er zum Teil zu einem Buch mit dem Titel Pour un réalisme socialiste (1935; Für einen sozialiistischen Realismus) zusammenstellte, erläuterte Aragon seine Konzeption dieser Richtung. Es fällt jedoch schwer, diesen Ausdruck kommentarlos auf Aragons eigene Werke anzuwenden, da er sich in seinen Romanen keineswegs an die in der Sowjetunion aufgestellten Definitionskriterien hält. Seine Romane stehen vielmehr in der Tradition des grossen gesellschaftskritischen französischen Romans des 19. Jahrhunderts, zu der er sich ausdrücklich bekennt. Man kann nicht umhin, Aragons Festhalten an diesem Begriff auch in späteren Jahren als ein Beispiel für seine Liebe zum Skandal zu betrachten. Man kann der Auffassung sein, dass Aragons Hartnäckigkeit in dieser Hinsicht der Rezeption seiner Romane bei einem weiten Publikum mehr oder weniger geschadet hat. Der Leser suchte das Politische und übersah dabei die Fähigkeit des Autors, sich mit seinen sehr interschiedlichen Gestalten zu identifizieren, mit ihren Worten zu sprechen ; die Ironie einzusetzen, packend, spitzfindig, emotionalisierend zu erzählen.

Leben und Werk 1939 - 1945

Bei Kriegsausbruch wurde Aragon sofort eingezogen. Man steckte den Herausgeber von Ce soir in ein Sonderregiment für politisch zweifelhafte Personen, doch konnte Aragon seine Einheit wechseln und in die Sanitätsabteilung einer Panzerdivision gelangen. Nach der "drôle de guerre", den Monaten tatenlosen Wartens der französischen Streitkräfte auf den deutschen Angriff, kam vom 10. Mai 1940 an der Fronteinsatz. Er erlebte das Inferno von Dünkirchen; er gehörte zu den letzten französischen Soldaten, die aus dem sich verengenden Kessel nach Folkestone evakuiert werden konnten. . Von England aus wurden er und seine Kameraden sofort nach Frankreich (Brest) weiterverschifft, um den Kampf fortzusetzen. Der Rückzug der französischen Armee führte Aragon schliesslich nach Javerlhac (Département Dordogne), wo er von der Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrages erfährt (22. Juni 1940) und er und Elsa sich wiederfinden (29. Juni). Für seine Tapferkeit bei der Bergung Verwundeter wird er mit dem Orden "Croix de guerre avec palme" und mit der "Médaille militaire" ausgezeichnet.

Aragon und Elsa Triolet halten sich zunächst an verschiedenen Orten der unbesetzten Zone auf: in Nizza, Carcassonne, Cahors (letzter Besuch bei Aragons Mutter, die am 2. März 1942 sterben wird), in Varetz , erneut in Carcassonne. Ende 1940 lassen sich Aragon und Elsa in einer kleinen Pension in Nizza niede;; später wechseln sie die Wohnung. Beim Einmarsch der italienischen Truppen verlassen sie Nizza (November 1942) und leben von da an  mehr oder weniger versteckt im Département Drôme, zeitweise unter dem Namen von Aragons Vater Andrieux.

Aragon schreibt seit seiner Einberufung Gedichte, die chronologisch den Ereignissen des ersten Kriegsjahres 1939/40 folgen. Diese ausserliterarischen Ereignisse werden, individualisiert, verinnerlicht, emotionalisiert, in eine Sprache voller Schmelz transponiert. Die meisten Gedichte erscheinen in Zeitschriften der nicht-besetzten Zone und Nordafrikas. Im April 1941 bringt der Verlag Gallimard , der in Paris geblieben war, diese Gedichte unter dem Titel Le Crève-coeur (Das Herzeleid) als Buch heraus. Sie sind noch nicht Ausdruck eines politischen Widerstandes, sondern vor allem Zeugnis der perrsönlichen Reaktion des Individuums, des Soldaten und seiner Geliebten auf das die ganze Nation erschütternde Geschehen. Ein Jahr später (1942) erscheinen drei weitere Gedichtbändchen, davon zwei in der Schweiz: Les Yeux d'Elsa (Elsas Augen) und Brocéliande (Brocéliande), und eines in Alger: Cantique à Elsa (Lobgesang auf Elsa; wird in der Folgezeit in den Lyrik-Band Les Yeux d'Elsa aufgenommen). 1943 erscheint - wiederum in der Schweiz - die Gedichtsammlung En français dans le texte (Französisch im Originaltext) und in dem französischen Untergrundverlag Les Éditions de Minuit das Poème Le Musée Grévin, eine satirisch-sarkastische Auseinandersetzung mit den Chefs der Kollaboration (Der Titel spielt auf das bekannte Pariser Wachsfigurenkabintt an.) Le Musée Grévin markiert einen Einschnitt: Es ist das erste Werk Aragons, das in einem Untergrundverlag veröffentlicht wurde, und es erscheint unter einem Pseudonym: Der Verfasser nennt sich François La Colère ("François der Zorn", "Der zornige Franzose"). Der Ton dieser Gedichte ist ein anderer. Waren die Gedichte der ersten Epoche weitgehend in einem elegisch-melancholischen Ton gehalten, folgt mit den clandestinen Veröffentlichungen ein aggressiv-kämpferischer. Hatte Aragon in den ersten Kriegsgedichten Ablehnung und Zustimmung indirekt, vor allem mittels literarischer und historischer Anspielungen, zum Ausdruck gebracht (er wird später von einer "poésie de contrebande", einer "Schmuggel-Poesie" sprechen, die sich dem Zugriff der Zensur zu entziehen suchte), schleudert er jetzt seine Gegnerschaft zu Vichy und  seinen Kampfeswillen auf sprachlich direktem Wege aus sich heraus. Auf eine Zensur brauchte nicht mehr Rücksicht genommen zu werden. Diese kämpferischen Gedichte finden sich ausser in Le Musée Grévin in La Diane française (Ende 1944; Der französische Weckruf), einer Sammlung, die Aragons im Untergrund verbreiteten (9 oder 10) Gedichte sowie einige weitere Gedichte enthält.

Aragons Gedichtproduktion lief parallel zu seinen  Tätigkeiten in der Organisation des geistigen Widerstandes; er war Chef der Dachorganisation der verschiedenen nationalen Komitees der Südzone; er beteiligte sich an der Gründung des als überparteilich gedachten Schriftstellerverbandes Comité Natinal des Écrivains (C.N.É.). Er war Mitarbeiter der clandestinen Zeitschriften Les Lettres françaises und Les Étoiles.

All diese zeitaufreibenden Tätigkeiten hinderten Aragon nicht daran, nicht nur eine Reihe von offen widerständlerischen Erzählungen zu schreiben (Servitude et Grandeur des Français (1945; Knechtschaft und Grösse der Franzosen), sondern auch eines seiner literarischen Hauptwerke Aurélien (1944) zu verfassen , den weitgehend unpolitischen Roman einer unerfüllten Liebe, der (bis auf den Epilog) im Paris der beginnenden zwanziger Jahre des 20. Jahrhiunderts spielt.

Leben und Werk 1945-1956

Nach dem Kriege setzt Aragon seine verschiedenen Aktivitäten fort, jetzt freilich zunehmend unter den Bedingungen und gemäss den Schemata des Kalten Krieges, in dem er auf seine Weise Partei ergreift, d.h.im wesentlichen der politisch-ideologischen Linie der Kommunistischen Partei Frankreichs folgt, die er - zumindest theoretisch - mitbestimmen kann, da er seit 1950 stellvertretendes Mitglied und seit 1954 Vollmitglied des Zentralkommités ist. In diesen Jahren  verfestigt sich das negative Bild, das sich seine nicht-kommunistischen Landsleute weitgehend von seiner Persönlichkeit machen. Noch heute (2009) wirft sein Verhalten Rätsel auf, die seitens seiner Kritiker unterschiedliche Erklärungsversuche erfahren, wobei das Lagerdenken immer noch eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Bei Aragon scheint die Neigung zum Skandal geblieben zu sein, vermischt mit einem Glauben und einer Hoffnung, von denen besonders krass seine zeitweilige publizistische Unterstützung der Vererbungsthesen des sowjetischen Scharlatans Lyssenko Zeugnis ablegt.

Aragon  ist weiterhin journalistisch tätig.So leitet er erneut die wieder erscheinende Abendzeitung Ce soir, bis sie 1953 eingestellt wird. Im März 1953 übernimmt er offiziell die Leitung der kulturellen Wochenzeitung Les Lettres françaises; er bleibt ihr Herausgeber bis 1972, als ihr von der Sowjetunion der Geldhahn zugedreht wird als "Strafe" für Aragons vehementen Widerspruch  gegen den Einmarsch der Staaten des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei (August 1968). Er hatte Les Lettres françaises zum Sprachrohr des "Prager Frühlings" gemacht.

Aragon mundtot zu machen hatten seine Gegner schon 1949 versucht, als es ihnen gelang, einen Gerichtsbeschluss zu erwirken, der ihm für zehn Jahre die staatsbürgerlichen Rechte entzog. Als Vorwand hierfür diente eine Angabe im Artikel eines seiner journalistischen Mitarbeiter, der in einem Bericht für Ce soir irrtümlicherweise von "senegalesischen" statt von "marokkanischen" Truppen geschrieben hatte. Aragons presserechtliche Verantwortung für den Wahrheitscharakter des Inhalts seiner Zeitung musste dafür herhalten, ihn der Verbreitung einer Falschmeldung zu beschuldigen und ein Gerichtsverfahren in Gang zu setzen.

Die vielfältigen Erfahrungen in Krieg, Résistance, erster Nachkriegszeit  hatten in Aragon eine Tendenz gefördert, die ihm in seinen jungen Jahren völlig fremd gewesen war: die Neigung zu einem gelegentlich überspitzten französischen Nationalismus. Bezeichnenderweise bekennt er sich 1948 zu einer geistigen Verwandschaft mit dem (1923 verstorbenen) Nationalisten Maurice Barrès, für dessen literarischen Stil er sich übrigens  schon als Schüler begeistert hatte. Auch Aragons Verhältnis zu Deutschland, dessen Kultur er immer hochgeschätzt hatte, ist durch die Härte der deutschen Besetzung Frankrechs , aber auch durch die tiefe Enttäuschung darüber, dass es keinen nennenswerten Widerstand des deutschen Volkes gegen das Naziregime gegeben hatte, gestört. So fordert er Ende 1944 in einem Artikel der Lettres françaises deutsche Reparationen an Frankreich in der Form, dass alle Werke französischer Künstler , die sich in Deutschland im Besitz der öffentlichen Hand befänden, auch wenn sie seinerzeit rechtmässig erworben worden seien, an Frankreich überstellt werden müssten. Der deusche Schriftsteller Stephan Hermlin, Emigrant, Kommunist, Widerständler,  Verehrer Aragons, protestiert öffentlich gegen eine solche Forderung und weist auf die positiv-erzieherische Funktion dieser Kunstwerke gerade im moralisch verkommenen Deutschland hin, doch Aragon lässt einen zweiten Artikel folgen, in dem er seine Forderung trotzig wiederholt. Beide Artikel lässt er in der Schweiz als bibliophile Luxusausgabe unter dem vom Maler Watteau übernommenen Titel L'Enseigne de Gersaint (1946; Das Ladenschild von Gersaint) .In seinen mit Jean Cocteau geführten Entretiens sur le Musée de Dresde (1957; Gespräche über die Dresdener Galerie), in denen auch zahlreiche französische Bilder der Sammlung kommentiert werden, ist von solchen Forderungen natürlich nichr mehr die Rede. Im Gegenteil: Aragon lobt die Rettung der Bilder durch die (sowjetischen) Sieger und ihre Rückgabe an die deutschen Eigentümer.

Als eine seiner vordringlichsten Aufgaben betrachtet Aragon die Förderung des literarischen Schaffens jüngerer Autoren, die Vermittlung von Literatur, die Weiterentwicklung und Weitergabe einiger theoretischer Grundpositionen, deren wichtigste die Position des Realismus ist, für die er sich seit seiner Trennung vom Surrealismus vehement einsetzt (Pour un réalisme socialiste, 1935; Für einen sozialistischen Realismus). Literaturkritik praktiziert er im wesentloichen als Einführung in einen Autor, in ein Werk, in gewisse Aspekte eines Werkes oder einer Gattung. Seine Devise, die er zur Devise des Kritikers schlechthin machen möchte, lautet: "Savoir faire aimer" ("Der Kritiker soll es fertig bringen, Liebe zur Literatur hervorzurufen"). Damit distanziert sich Aragon von den Kritikern, die  ihre Aufgabe in erster Linie darin sehen, auf Mängel eines Werkes hinzuweisen (bzw. auf das, was ihnen als Mängel erscheint)..Nur ein Teil seiner Artikel ist in Buchausgaben gesammelt.

In dem der Lyrik gewidmeten Teil seiner Ästhetik verteidigt Aragon unter Berufung auf Goethe das "Gelegenheitsgedicht" ("poème de circonstance"), dessen Wirkung auf die Leser er bei seinen im Krieg verfassten Gedichten hatte erleben können. Ein Gedicht entsteht in Bezug auf und im Rahmen von außerliterarischen Gegebenheiten, ist aber erst dann Poesie, wenn die Worte den musikalischen Zauber des "chant", des "bel canto" besitzen, der der sogenannten "poésie pure" ("reine Dichtung") eigen ist, auf welche ein Abbé Bremond oder ein Paul Valéry Dichtung reduzieren wollten. Zur Illustration und Verteidigung seiner These schreibt Aragon  seine "Chroniques du bel canto". Diese Essays, 1946 in der Zeitschrift Europe und 1947 auch als Buch erschienen (Chroniques du bel canto) sind eine Einführung in Aragons Konzeption der Lyrik anhand der poetischen Neuerscheinungen des Jahres 1946. Von den Autoren der Vergangenheit wird ihm Victor Hugo als realistischer und patriotischer Dichter immer mehr zum Vorbild, an dem sich auch gegenwärtige Dichter orientieren sollten. Er veröffentlicht u.a. die kommentierteAnthologie Avez-vous lu Victor Hugo ? (1952; Haben Sie Victor Hugo gelesen?) und den Essay  Hugo poète réaliste, 1952; Victor Hugo als realistischer Dichter). Während der Kalte Krieg seinen Höhepunkt erreicht, ruft Aragon nach einer "nationalen Poesie" (Journal d'une poésie nationale; 1954; Tagebuch einer nationalen Poesie).. In dem umfangreichen Poème Les Yeux et la mémoire (1954; Die Augen und das Gedächtnis) weist der Dichter Forderungen seiner marxistisch-dogmatischen Kritiker zurück, denen zufolge ein kommunistischer Maler keine Naturdarstellungen malen dürfe, wenn in ihnen nicht auch ein werktätiger Mensch gezeigt wird. Für die Lyrik  skizziert Aragon eine neue Parteiästhetik, in deren Zentrum die Forderung (oder zumindest der dringende Rat) steht, die zeitgenössischen kommunistischen Dichter sollten für ihre profane Poesie die religiöse Metaphorik der christlichen Tradition übernehmen.

Er selbst veröffentlicht in den Nachkriegsjahren mehrere Gedichtbände. Als erstes erscheint Le Nouveau Crève-coeur ((1948; Das neue  Herzeleid)), dessen erster Teil Aragons Enttäuschung über Frankreichs politische Entwicklung nach dem Krfieg und seine Unzufriedenheit mit den neuen Vehältnissen zum Ausdruck bringt. In den folgenden vier Teilen  des Bändchens finden sich einige der schönsten  Gedichte Aragons. Es folgt das ungefähr 3000 Verse umfassende Poème Les Yeux et la mémoire (1954; Die Augen und das Gedächtnis), das einzige poetische Werk Aragons, das man als "Partei-Buch" bezeichnen kann. Es ist eine Mischung von privater Erinnerung, Evokation tagesaktueller Ereignisse, öffentlichem Bekenntnis, ideologischer Belehrung und Polemik, Austragungsiort innerparteilicher Querelen, aber auch Ausdruck von allgemeinmenschlichen Gefühlen und Stimmungen. Zum ersten Male betrachtet der Dichter die Zeit des Surrealismus als auch .positiv zu bewertende Jahre, - eine Einstellung, die man bereits in seiner unvollendeten und erst, 1989  aus dem Nachlass veröffentlichten autobiographischen Schrift Pour expliquer ce que j'étais (1943; Um zu erklären was ich war) (1943/1989). Die Bindung an die Partei erweist sich als ein primär emotionales Band: die Partei übernimmt in den Gefühlen des Vaterlosen die Rolle des biologischen Vaters: Salut parti mon père désormais  ("Heil Dir Partei mein Vater bist Du jetzt").

Parallel zu den Essays über lyrische Texte erscheinen Artikel über Texte anderer Gattungen. Einige sind in den Sammelband La Lumière de Stendhal  (1954:; Stendhals Licht) eingegangen; Er enthält Aufsätze nicht nur über Stendhal, sondern auch über Heinrich von Kleist, Marceline Desbordes-Valmore, Émile Zola, Maurice Barrès usw. Der Band interessiert auch wegen einiger autobiographischer Mitteilungen. Der hybride Sammelband J'abats mon jeu (1959; Ich decke meine Karten auf) präsentiert sich als ein Bekenntnis zur Modernität. Gleichzeitig beruft sich Aragon auf den "Sozialistischen Realismus". Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er diesen Begriff weitgehend als eine aus der Sowjetunion übernommene Worthülse verwendet, um ein Romanschreiben zu bezeichnen, das sich in die Tradition des realistisch-gesellschaftskritischen französischen Romans des 19. Jahrhunderts einreiht. Das gilt auch für den umfangreichen Roman Les communistes (1949-1951; Die Kommunisten). Unter diesem provokanten Titel erzählt Aragon auszugshaft die französische Geschichte von Februar 1939 bis Juni 1940  (vom Ende des spanischen Bürgerkriegs bis zum Inferno von Dünkirchen). Eine Vielzahl von Gestalten, die oft reale Menschen als Modell haben, erlaubt dem Autor, ein differenziertes Bild von der Vielfalt der Meinungen und Aktivitäten  der französischen Gesellschaft in jenem Zeitraum zu entwerfen. Es ist auch ein Kriegsroman, bei dem Aragon autobiographisches Material verarbeiten konnte. Eigentlich sollte der Roman inhaltlich den gesamten Zeitraum des Zweiten Weltkriegs umfassen, doch liess Aragon das Werk unvollendet, wie er es bereits bei  La Défense de l'infini getan hatte. Dass er aus seinem früheren Mitarbeiter Paul Nizan die unsympathische Romangestalt Orfilat macht  (P. Nizan war nach dem Hitler-Stalin-Pakt aus der KP ausgetreten und wird jetzt offenbar "abgestraft"), hat Aragon  viel Sympathie gekostet. Bei der Neubearbeitung des Romans Les communistes (1966) streicht Aragon die gesamte Gestalt Orfilat und erkennt damit die Berechtigung der Einwände seiner Kritiker stillschweigend an.

Seit jeher aufgeschlossen für ausserfranzösische Sprachen und Kulturen, versucht Aragon in dem jetzt betrachteten Lebensabschbnitt gerade auch die sowjetischen Literaturen dem französischen Leser  zu vermitteln. Als Herausgeber der Reihe Littératures soviétiques lässt er bei Gallimard französische Übersetzungen zeitgenössischer sowjetischer Romane erscheinen und gibt einen Gesamtüberblick über die sowjetischen Literaturen in dem Buch Littératures soviétiques (1955).

Leben und Werk 1956-1963

 Als nächstes Poème erscheint Le Roman inachevé (1956; Der unvollendete Roman im Sinne von "Das unvollendete Leben"). Das Werk kann als Fortsetzung von  Les Yeux et la mémoire und gleichzeitig als dessen Gegenstück betrachtet werden. Enthielt Les Yeux et la mémoire gewisse autobiographische Züge, so handelt es sich bei Le Roman inachevé durchweg um eine Autobiographie Aragons, aber in Versform. Standen in Les Yeux et la mémoire  allgemeine Probleme der gegenwärtigen Zeit im Mittelpunkt des dichterischen Diskurses (Krieg und Frieden, die atomare Bedrohung, die ideologische Zweiteilung der Welt, die Rolle der kommunistischen Partei, Vorschläge für eine neue marxistische Dichtung usw.), so bringt Aragon in Le Roman inachevé seine privaten Gefühle, Gedanken, Wünsche zum Ausdruck, dies alles in ständigem Bezug zu den historischen "Umständen" ("circonstances"). Die literarisch interessierte Öffentlichkeit nahm, sofern sie guten Willens war, einen veränderten Aragon wahr. Noch nie hatte er sich - unverschlüsselt - so ausführlich über sein Ich geäussert. Hier evoziert er seine Kindheit, seinen Werdegang, das soziale Umfeld, in dem er aufgewachsen ist, und die psychologischen Strukturen, die sein Denken und Handeln bedingten. Es sind persönliche Bekenntnisse eines Mannes, der sich von (offenbar)  bedingungslos akzeptierter Fremdbestimmung zu lösen begonnen hat. In die Zeit der Abfassung des Poème fällt die Enthüllung der Verbrechen Stalins auf dem 20. Parteitag der KPDSU: erste Reaktionen auf dieses Ereignis lassen sich in Le Roman inachevé erkennen. Neu bei Aragon ist sicherlich nicht das Wissen von Stalins Verbrechensherrschaft und Diktatur (schliesslich war selbst Lili Brik, die Schwester Elsa Triolets, als Lebenspartnerin des sowjetischen Generals Primakow, der 1937 hingerichtet wurde, von der Stalinschen Willkür betroffen); neu ist vielmehr Aragons öffentliches Bekenntnis, dass er sich aus unkritischer Begeisterung für ein utopisches Weltbild hat täuschen lassen bzw. bereit war, sich täuschen zu lassen.

Zwei Jahre nach dem Poème Le Roman inachevé erscheint1958 der grosse Roman La Semaine sainte (Die Karwoche). Die Handlung folgt der historischen Karwoche des Jahres 1815, in der Napoléon und seine Truppen vom Süden Frankreichs nach Norden ziehen und König Ludwig XVIII. zum Verlassen des französischen Territoriums zwingen. Zentrale Romangestalt ist der Maler Théodore Géricault (1791-1824), der mit schlechtem Gewissen den königlichen Truppen angehört, aber politisch desorientiert ist und einen persönlichen Ausweg für sich sucht, den er schliesslich in der Kunst, in der Malerei findet. Die innere Zerrissenheit des Malers findet ihr Gegenstück in dem unterschiedlichen, widersprüchlichen Verhalten der Generäle, die zwischen Loyalität gegenüber dem König und Hinwendung zu Napoléon schwanken. Der Roman spiegelt die Desorientierung französischer Intellektueller und Aragons selbst angesichts der politischen Weltlage nach dem Zerfall der ideologischen Gewissheiten.  Der Roman ist Aragons Antwort  auf den 20. Parteitag der KPDSU . Er wählt das historische Gewand, um sich freier ausdrücken zu können. So erregte dieses Werk grosses Aufsehen in Frankreich; man betrachtete es vielfach als Absage des Autors a den "sozialistischen Realismus", auch wenn Aragon eine solche Absicht bestritt. Schon der Titel des Werks , der auf die katholische Liturgie verweist (auch wenn man in Frankreich bei Verwendung des Begriffs in einem historischen Kontext weiss, was gemeint ist)., erregte Aufsehen, zumal da Aragons vorangegangener Roman Les communistes betitelt war. Auch Skeptiker betrachteten den Roman als Rückkehr Aragons in die klassische französische Romantradition; zum ersten Male seit langem wird er von der "bürgerlichen" Kritik und Öffentlichkeit wieder als Schriftfteller wahrgenommen und gefeiert.

Mit dem Poème Elsa (1959) greift Aragon erneut die Liebe als zentrales Thema auf, diesmal ohne jede Anspielung auf die zeitgenössischen "circonstances".Les Poètes (1960; Die Dichter) ist eine Art Poetik, eine Abfolge von Gedichten unterschiedlicher Form und unterschiedlichen Inhalts, die um Dichtung, Dichter, Liebe kreisen.

Masslos wie immer, macht sich Aragon alsbald an die gleichzeitige Abfassung zweier Werke, von denen jedes den vollkommenen Einsatz seiner Kräfte verlangt, zumal da beide ein extensives Quellenstudium verlangen. Das eine Werk ist eine dreibändige Geschichte der Sowjetunion von Lenin bis Chruschtschow: Histoire de l'U.R,S.S. (1962; Geschichte der U.d.S.S.R). Es handelt sich um ein gesponsertes Verlagsunternehmen, das eine gewisse weltpolitische Entspannung (Stichwort: "friedliche Koexistenz" der Grossmächte) zum Anlass nehmen will, die unterschiedliche Entwicklung der beiden Weltmächte parallel zueinander darzustellen: während Aragon nämlich die sowjetische Geschichte von 1917 bis Januar 1960 referiert, erzählt der französische Schriftfteller André Maurois die Geschichte der USA.; daher der Obertitel des Gemeinschaftswerkes Histoire parallèle . Aus den Briefen Elsa Triolets an ihre Schwester wissen wir, welche Mühe Aragon die Abfassung seines Teils dieser Histoire parallèle kostete.; schliesslich war er kein professioneller Historiker oder gar Spezialist der Geschichte der Sowjetunion, worauf er auch ausdrücklich hinweist. So enthält er sich weitgehend direkt wertender Aussagen und liefert eher eine mit zahlreichen Zitaten unterfütterte Chronik der Ereignisse von 1917 bis 1960. ("et au-delà", "und darüber hinaus"). Eine Unzahl von Fakten und Dokumenten wird angeführt. So ist Aragons Text weitgehend "trocken", der Stil äusserst dicht und gerafft, vor allem dank einer auffallend häufigen Verwendung von Partizipialsätzen, die den lateinischen Ablativus absolutus evozieren und die Rezensenten mit Recht an Tacitus denken liessen. Dieses Stilmittel gibt dem Leser das Gefühl, dass sich die geschichtlichen Ereignisse geradezu überschlagen. Das Werk vermittelt einen Einblick in Aragons Sicht der Sowjetunion Ende der fünfziger Jahre, eine Sicht, die insgesamt - natürlich - positiv, aber im einzelnen nicht unkritisch ist (wobei die kritischen Stimmen meist selbstkritische, aus dem sozialistischen Lager stammende sind). Im letzten Kapitel setzt sich Aragon mit der Utopie auseinander, die im Menschen Hoffnungen erweckt, die die Realität, die Politik nicht erfüllen kann und so zu Enttäuschungen führt..Daher nennt Aragon die Utopie einen "Streikbrecher" ("briseur de grève"). Eine kritische Würdigung dieses Geschichtswerkes seitens eines (einer) Spezialisten (tin) bleibt ein Desiderat.

Das zweite Werk, das Aragon zeitweise parallel zu seiner Histoire de l'URSS schreibt, ist Le Fou d'Elsa (1963; Elsas Narr). Man kann in ihm Aragons poetisches Haupt- iund Meisterwerk sehen. Dieses epische Poème von 425 Seiten, an das sich ein Anhang "Lexique et notes" ("Lexikon und Anmerkungen") und ein detailliertes Inhaltsverzeichnis anschliessen, transponiert sowohl aktuelle als auch überzeitliche Probleme des Menschen in die Welt des islamischen Königreichs Granada, d.h. in die Jahre vor und nach dem Sturz dieser letzten Bastion des Islams auf spanischem Boden durch die katholischen Könige (1492).  Aragon erzählt die Geschichte jener entscheidenden Jahre, die das weitere Schicksal Spaniens bestimmten. Er erzählt dies mittels der zahlreichen Gestalten, die er auftreten lässt, sei es als Ich-Sprecher oder sei es als Erzähler in der ersten oder dritten Person. Antagonistisch stehen sich König Boabdil und der Strassensänger Kéis Ibn Amir gegenüber. Der König hat den Untergang seiner Person und seines Reiches vor Augen und symbolisiert damit den Menschen schlechthin, der notwendigerweise seinem Tode entgegengeht. Der Strassensänger ist Dichter, und er ist gleichzeitig der Medjnoûn, der Narr, der so genannt wird, weil er eine Frau der Zukunft närrisch liebt und besingt, Elsa. Das Muster, das Aragon diesem Liebespaar zugrunde legt, ist das aus der persischen Dichtung stammende Paar Medjnoûn - Leïla, auf das sich auch schon Goethe berufen hatte. So ist Aragons Werk eine Reflexion über Liebe und Zukunft. Nicht aus einer Doktrin der Kollektivität kann eine bessere Welt entstehen, sondern nur aus der gelebten Praxis des einzelnen Paares. So wird "le couple" ("das Paar") zum neuen Ideal menschlicher Existenz und zum Kern einer neuen Gesellschaft: "Sein Traum von Mann und Frau zusammen, einer dem anderen Antwort auf jede Frage, die nichts voneinander trennen kann, woraus die Güte der Welt entsteht und die Schönheir des Tages." Im Zusammenhang dieser Liebesmystik (die man bis zum ganz jungen Aragon zurückführen kann) fällt immer wieder leitmotivisch der Satz, der die Zukunft des Mannes in Relation zur Frau definiert: "L'avenir de l'homme est la femme" ("Die Zukunft des Mannes ist die Frau"), ein Satz , der mindestens für zwei  Interpretationen offen zu sein scheint: Was ist mit "l'homme" gemeint: der Mann oder der Mensch? Die Antwort dürfte auf S. 166 der französischen Originalausgabe zu finden sein: "l'homme" ist hier eindeutig der Mann. Der Satz wird vielfach falsch zitiert: "La femme est l'avenir de l'homme". Es handelt sich aber bei Aragon nicht um eine Definition der Frau, sondern um eine solche des Mannes. Das Werk stellt Suimma und Höhepunkt des aragonschen Feminismus dar.

Leben und Werk 1964-1982


Drei umfangreiche Romane, deren Stil und Struktur deutlich von Aragons  früheren Romanen abweicht, ein Band mit Erzählungen, zwei Künstlermonographien, ein Bändchen über Collagen in Kunst und Literatur, ein Sammelband mit Artikeln über Kunst und Künstler, fünf Gedichtsammlungen, drei Bücher über sein eigenes Schreiben und zwei vielbändige Sammelwerke, die sein erzählerisches und poetisches Gesamtwerk enthalten: das ist Aragons literarische und literaturkritische Produktion in den letzten 18 Jahren seines Lebens. Hinzu kommt seine journalistische und kulturpolitische Tätigkeit, insbesondere als Herausgeber der kulturellen Wochenzeitschrift Les Lettres françaises  (1953-1972) und als Verfasser von Artikelserien z.B. in der politischen Wochenzeitung France nouvelle. Im Jahr 1972 müssen Les Lettres françaises  ihr Erscheinen einstellen, weil die Sowjetunion ihre Subventionen streicht als Bestrafung für den Kurs der Zeitschrift, die den  "Prager Frühling" offen unterstützt und den Einmarsch der Staaten des Warschauer Paktes in die Tschechoslovakei verurteilt (August 1968). Unvergessen ist z.B. der Artikel, mit dem Aragon angesichts der Gleichschaltung der Künstler im besetzten Land (Stichwort: "Normalisierung") vor einem Hinsiechen der Kultur in der CSSR warnt.und dabei mit Anspielung auf die Hungersnot in Afrika (Nigeria) von der Gefahr spricht, es könne in der Tschechoslovakei zu einem "Biafra des Geistes" kommen. Bereits 1965 hatte er in einem Offenen Brief, den die Parteizeitung L'Humanité veröffentlichte, im Namen der Meinungsfreiheit gegen die gerichtliche Verurteilung der sowjetischen Schriftfteller Siniawski und Daniel protestiert. Insbesondere tritt er in jenen Jahren für die Öffnung seiner eigenen Partei auf politischem wie auf kulturellem Gebiet ein.. Allerdings tat Aragon dies stets mit der Absicht, die Partei von innen her zu läutern und für die Öffentlichkeit bestimmte Paukenschläge zu vermeiden, was zu manchen Missverständnissen und Vorwürfen führte. Er unterstützt z.B. auch den damals noch marxistischen) Kulturpolitiker Roger Garaudy und dessen Konzept eines "réalisme sans rivages" ("Realismus ohne Ufer"), ja macht daraus einen "modernisme sans rivages". Als Erfolg der reformerischen Aktivitäten Aragons im Sinne der kulturellen Öffnung gilt auch, dass auf der Sitzung des Zentralkomités der KPF in Argenteuil (März 1966) eine weitgehend von Aragon verfasste Resolution angenommen wurde.

Die Romane


Drei grosse Romane erscheinen zwischen 1965 und 1974: La Mise à mort, Blanche ou l'oubli, Théâtre/Roman.  Sie alle brechen mit Aragons bisheriger Romantechnik. Sie lassen sich nicht mehr als modernisierte Weiterführung des klassischen französischen Romans des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstehen; es sind vielmehr Romane der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere in ihrer freien Erzähltechnik und ihren metasprachlichen/metapoetischen Einschüben.

La Mise à mort (1965; Die Tötung) ist ein Roman über den Roman, über den Realismus, die Liebe, über das Problem der "other minds" und  gleichzeitig  eine Auseinandersetzung des erzählenden und reflektierenden Ichs mit dem Stalinismus. Das Ich versucht, diesen von innen heraus zu beschreiben und zu analysieren. La Mise à mort ist ein komplex-komplizierter Roman. Er wimmelt von literarischen und historischen Anspielungen bzw. Spiegelungen. So wird z.B. die historische Gestalt des Arztes, Ministers und "Favoriten der (dänischen) Königin Caroline Mathilde", Johann Friedrich Struensee (1737-1772) , eingearbeitet . Breiten Raum nehmen Überlegungen über die Doppelheit des Menschen ein, seine Aufspaltung in ein gutes und ein böses Wesen, in einen Dr Jekyll und einen Mr Hyde. Der Ich-Erzähler des Romans ist ebenfalls ein Doppelwesen und trägt dementsprechend zwei Namen, Alfred und Anthoine.

Zwei Jahre später erscheint Aragons nächster Roman, Blanche ou l'oubli (1967; Blanche oder das Vergessen). Dieser Roman greift auf originelle Weise die linguistische Diskussion auf, die Mitte der sechziger Jahre in Frankreich geführt wird, und setzt gleichzeitig die Abrechnung mit dem Stalinismus fort. Auch hier verwendet Aragon das Verfahren, aktuelle Themen und Probleme in Zitaten zu spiegeln, die der literarischen Tradition entnommen sind (Hölderlin, Flaubert). Zeitgenössische historische Ereignisse bilden den Hintergrund zahlreicher Episoden.

Aragons letzter Roman ist Théâtre/Roman betitelt (1974; Theater/Roman). Eines seiner Motive ist die Übertragung der alten Metapher "Leben ist Theater" auf alle Bereiche der menschlichen Existenz. Zentral ist die Aussage "L'amour est aussi un théâtre" ("Liebe ist auch ein Theater"). Aragons Roman ist ebenfalls eine Meditation über dasAltern: Der junge Schauspieler Romain Raphaël begegnet dem alten Mann, der er selbst einmal sein wird. Es ist ein Roman über den Wandel, dem alles Seiende unterworfen ist, der Mensch wie die ihn umgebende Welt. Der Roman folgt nur teilweise einer eindeutigen Handlungslinie; er ist auch eine Sammlung von Essays über das menschliche Dasein. Zeitlich ist er unter anderem dadurch situiert, dass in ihm die grossen Pariser Bauten der sechziger und beginnenden siebziger Jahre als Handlungshintergrund evoziert werden. Auch die erzählerische Einführung und Diskussion des neuen Regietheaters dient der zeitlichen Orientierung des Lesers. Formal unterscheidet sich Théâtre/Roman von allen anderen Romanen Aragons darin, dass er narrative oder reflektierende Prosatexte durch poetische Texte ablöst (also Texte in Gedichtform, in freien, nicht reimenden Versen)..


Zu den Romanen der sechziger und siebziger Jahre tritt der Band Le Mentir-vrai (1981; Das Wahr-Lügen). In ihm sammelt Aragon seine seit 1924 (d.h. seit der Veröffentlichung von  Le Libertinage) verfassten Erzählungen. Einige von ihnen waren im Laufe der Jahre bereits erschienen, vor allem die Serie Servitude et grandeur des Français (1945; Knechtschaft und Grösse der Franzosen). Der Band Le Mentir-vrai enthält auch die titelgebende Erzählung "Le mentir-vrai" von 1964, in der Aragon in erzählerischer Form Grundgedanken zu einer Poetik des Romans oder der Novelle entwickelt. Viel zitiert wird auch die Erzählung "La valse des adieux" (1972), mit der sich Aragon von den Lesern der Lettres françaises verabschiedet und die das Geständnis enthält:: "J'ai gâché ma vie et c'est tout." ("Ich habe mein Leben verpfuscht und das ist alles.")


Die poetischen Werke

Aragons poetisches Schaffen nach Le Fou d'Elsa ist in fünf Publikationen vereint:
  1. Le Voyage de Hollande et autres poèmes (1964; Die Hollandreise und andere Gedichte)Der erste Teil des Bändchens ist von einer Hollandreise inspiriert, die Aragon und Elsa Triolet im verregneten Sommer1963 unternahmen. Die Gedichte des zweiten Teils sind unterschiedlichen Themen gewidmet. Hier findet sich auch das Gedicht "La Messe d'Elsa" (Die Elsa-Messe) , in dem der Dichter seine Liebe ins Liturgische erhebt.
  2. Il ne m'est Paris que d'Elsa (1964; Paris ist mir nur durch Elsa gegeben) evoziert vor allem Momente des gemeinsamen Lebens mit Elsa. Einige Gedichte waren schon früher veröffentlicht worden.
  3. Élégie à Pablo Neruda (1964; Elegie auf Pablo Neruda). Ein Zeugnis der Sympathie für den chilenischen Dichter und Freund Aragons.
  4. Les chambres (1969; Die Schlafzimmer). Meditationen Aragons über sein Verhältnis zu Elsa.
  5. Les Adieux (1981; Der Abschied). Aragons letzte unveröffentlichte Gedichte. 

Autobiographisches


Aragon hat sich wiederholt ablehnend über die  Autobiographie als Gattung geäussert.(Le Roman inachevé gehört nicht zur Gattung Autobiographie) Andererseits finden sich in seinem literarischen und kritischen Werk zahlreiche direkte und indirekte Aussagen über sein Leben, sein Werk und über seine schreibenden Zeitgenossen. Aragon ist Teil und Zeuge seiner Zeit. Das beginnt mit den Artikeln, die er 1923 für seinen Mäzen Jacques Doucet schrieb (Projet d'histoire littéraire contemporaine; Entwurf einer zeitgenössischen Literaturgeschichte) und die erst 1994 veröffentlicht wurden. Während des Zweiten Weltkrieges (vermutlich 1943) begann er eine autobiographische Rückschau, die Fragment geblieben ist und als solches 1989 publiziert wurde: Pour expliquer ce que j'étais (Um zu erklären, was ich war). Über nahezu alle Perioden seines Lebens äussert er sich in seinen Gesprächen mit Dominique Arban (Aragon parle avec Dominique Arban, 1968). Einzelne Themen erörtert er in seinen Gesprächen mit Francis Crémieux (Entretiens avec Francis Crémieux, 1964). Die Rolle, die in seinem narrativen Werk der Romananfang für den Fortgang des entsprechenden Romans spielt, behandelt er in seinem Buch Je n'ai jamais appris à écrire ou Les incipit (1969; Ich habe niemals schreiben gelernt oder die Incipit). Als er von 1964 bis 1974 sein erzählerisches Gesamtwerk neu herausbringt (OEuvres romanesques croisées d'Elsa Triolet et Aragon ), versieht er jedes seiner Werke mit einem ausführlichen Vor- oder  Nachwort, das vielfach autobiographischen Charakter hat. Ab 1974 veröffentlicht  er eine fünfzehnbändige Gesamtausgabe seines poetischen Werkes (L'OEuvre poétique) und  verfährt ähnlich, muss die Arbeit aber aus gesundheitlichen Gründen abbrechen. Sein Briefwechsel , der bisher nur ansatzweise veröffentlicht wurde,  enthält natürlich ebenfalls Autobiographisches:: "Le Temps traversé", 1994; Papiers inédits 1917-1931, 2000.

Schriften über Kunst

Wie in all seinen Schaffensperioden schreibt Aragon auch im Alter zahlreiche Texte über Kunst und bildende Künstler, ein Teil dieser Texte wurde in Sammelbänden vereint. Genannt seien hier der Auswahlband Écrits sur l'art moderne (1981; Schriften über die moderne Kunst), das Bändchen Les collages (1965; Die Collagen) , in dem Aragon seine Artikel zum Thema Collagen in der modernen Kunst und Literatur gesammelt hat und das auch die gerade heute besonders aktuelle Schrift La Peinture au défi (1930; Die herausgeforderte Malerei) enthält, sowie Aragons gesammelte Texte über den Maler Alain Le Yaouanc (1980), ergänzt durch das Büchlein La petite phrase (2002; Der kleine Satz) . Dem Maler Henri Matisse hat Aragon das umfangreiche zweibändige Werk Henri Matisse, roman (1971) gewidmet. Seine Artikel und Gedichte auf Picasso sind verstreut geblieben.

Gesamtausgaben


Das gesamte literarische Werk Aragons ist heute (2009) in sieben Bänden der Bibliothèque de la Pléiade (Éditions Gallimard, Paris) leicht zugänglich. Zahlreiche Einzelwerke liegen in preiswerten Taschenbuchausgaben vor, die Artikel und Rezensionen der Jahre 1918 bis 1932  in Chroniques I (1998)..

Letzte Aktualisierung: 2. September 2009

Wolfgang Babilas, Romanisches Seminar der Universität Münster (Allemagne)


Anmerkungen
Anm.01.