Louis Aragon - Leben und Werk
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W.B.
Der französische Schriftfteller Louis Aragon (* 3. Oktober
1897 in Paris + 24. Dezember 1982 ebenda) war Romancier, Lyriker,
Essayist, Journalist, Politiker und - in gewissem Sinne - auch
Historiker. Sein Bruch mit dem Surrealismus (1932), zu dessen
Gründern er gehört hatte, seine Hinwendung zum Realismus
in Kunst und Literatur seit Beginn der dreissiger Jahre des 20.
Jahrhunderts, sein politisches Engagement in der Kommunistischen Partei
Frankreichs, sein unkritisches Verhältnis zur Sowjetunion, sein
leidenschaftliches Temperament, seine zugespitzten Formulierungen,
seine Neigung zum sprachlichen Skandal machten ihn zu einem der
umstrittensten Intellektuellen im Frankreich des 20. Jahhunderts.
Gefeiert von den einen, gehasst von den anderen, ist Aragon ein
"berühmter", wenn auch vielfach clichéhaft abgestempelter
französischer Schriftfteller. Französische Gemeinden haben
Strassen, U-Bahn-Stationen, Einkaufszentren, Schulen, Bibliothzeken,
Mediatheken nach ihm benannt. Auf der öffentlichen Trauerfeier bei
seinem Tod hielt der damalige französische Ministerpräsident
die Trauerrede, Staatspräsident Pompidou genehmigte seine und
seiner Frau Bestattung auf einem Privatgrundstück. Die
französische Post brachte eine Briefmarke mit seinem Porträt
(von Henri Matisse) heraus. Zahlreiche populär gewordene Chansons
sind Vertonungen seiner Gedichte, gesungen von den bekanntesten
Chanson-Sängern und -Sängerinnen Frankreixhs. Seine Werke
gehören immer wieder zum offiziellen Lehr- und Prüfungsstoff
an höheren Schulen und Universitäten. Eine Fülle
literaturwissenschaftlicher Abhandlungen befasst sich mit seinem
umfangreichen Werk..
Aragons Leben: die Jahre 1897-1932
Louis Aragon war das aussereheliche Kind des Rechtsanwalts, Politikers,
Zeitungsdirektors und zeitweiligen Pariser Polizeipräfekten Louis
Andrieux (1841-1931) und einer jungen Südfranzösin mit
italienischen Wurzeln, M;arguerite Toucas-Massillon (1873-1942). Um die
die "bürgerliche" Moral verletzende Tatsache der ausserehelichen
Geburt des Kindes vor diesem und vor den Freunden der Familie zu
vertuschen, kam der verheiratete Louis Andrieux auf die Idee, seinem
Sohn per Gerichtsbeschluss als Familiennamen den Namen der spanischen
Region "Aragon" geben zu lassen, vielleicht, so meinen manche, in
Erinnerung an die Zeit, die er als französcher Botschafter in
Spanien verbracht hatte. Der Öffentlichkeit und dem jungen Louis
wurde ein Lügengewebe aufgetischt: seine Mutter wurde als
seine ältere Schwester ausgegeben, seine Grossmutter als seine
Adoptivmutter, sein leiblicher Vater als sein Taufpate. Erst als Louis
zum Militär eingezogen wurde, enthüllte ihm die Mutter die
wahren Verwandtschaftsverhältnisse, die er freilich schon erahnt
hatte.
Die finanzielle Situation der Familie war überdies dadurch
prekär, dass Louis' Grossvater mütterlicherseits, Fernand de
Biglione, Unterpräfekt in Guelma (Algerien), bereits vor Aragons
Geburt seine Familie plötzlich vetrlassen hatte und diese dadurch
zwang, sich mühsam durch das Leben zu schlagen, u.a. durch die
Einrichtung einer Familienpension unweit des Arc de Triomphe. Die
Hauptlast des Brotverdienens ruhte dabei auf den Schultern Marguerites,
der Muztter Aragons, die später auch als Romanautorin und
Übersetzerin tätig war.
Katholisch getauft, löste sich der Heranwachsende nach seiner
Erstkommunion von dem ihm gelehrten Glauben in einem Reflexionsprozess,
den der Romancier wiederholt in seinem Werk thematisieren wird. In
seiner surrealistischen Periode und zu Beginn seiner
kommunistischen Periode gibt er sich militant atheistisch und
antiklerikal, seit dem Zweiten Weltkrieg stellt er sich hinter die
positiven Werte, die er in einem echten Christentum verkörpert
sieht.
Schon als Kind war Louis ein grosser Leser, der nicht nur die von den
Lehrplänen vorgechriebenen Autoren verschlang, sondern
darüber hinaus Werke wie Dombey and Son von Charles Dickens, Jean-Christophe von Romain Rolland, Italienische Märchen von Maxim Gorki usw. Lesen hatte er schon vor dem Schulbesuch anhand von Fénelons Erziehungsroman Les Aventures de Télémaque gelernt.
Sein Abitur machte er während des Ersten Weltkriegs. Nach
(späten) eigenen Angaben wollte er Sprachwissenschaftler werden,
erfüllte dann aber den Wunsch seiner Mutter, die ihren Sohn in
einem "ordentlichen" Beruf mit sicherem Einkommen sehen wollte, und
begann mit dem Studium der Medizin..
1917 wurde er eingezogen und erhielt im Pariser Militärhospital
Val-de-Gtâce eine Ausbildung als Hilfsarzt ("médecin
auxiliaire"). Dort lernte er den ebenfalls zu
militärärztlicher Ausbildung abkommandierten ehrgeizigen
jungen Dichter André Breton kennen, mit dem er auf der Grundlage
gemeinsamer künstlerischer und literarischer Interessen und
Ambitionen eine enge Freundschaft schloss, die bis 1932 andauern
sollte. Gemeinsam wollten sie die Pariser Kulturszene, ja die Welt
revolutionieren. Breton ging auf diesem Weg voraus: Zusammen mit
Philippe Soupault verfasste er 1919 eine Reihe von Texten, die dank der
Schnelligkeit ihrer Niederschrift der unmittelbare, unzensierte
Ausdruck des individuellen Unbewussten des Schreibenden sein
sollten. Für diese spontane, der Zensur keiner moralischen oder
sozialen Instanz sich unterwerfenden Art des Schreibens bürgerte
sich der Begriff "écriture automatique" ("automatisches
Schreiben") ein.. Die von Breton und Soupault gemeinsam
verfassten Texte erschienen 1920 unter dem Titel Les Champs magnétiques (Die Magnetfelder)..
Aragon, der noch 1918 als Sanitäter in schwerem Fronteinsatz
gewesen, ja dreimal verschüttet worden war, wurde im Sommer 1919
aus dem Militärdienst entlassen., ausgezeichnet mit dem Orden
"Croix de guerre" ("Kriegskreuz"). Auch er experimentierte mit der
Niederschrift automatischer Texte, mass ihnen jedoch nicht die zentrale
Rolle bei, die Breton seinen eigenen automatischen Texten zuerkannte.
Ein Grossteil von ihnen wurde sogar erst nach 1967
veröffentlicht.
Offen für (fast) alles, was in Vergangenheit und Gegenwart den
Rahmen des Traditionellen in Literatur, Kunst, Moral sprengte,
begeisterten sich die jungen Pariser Schriftsteller für andere
rebellische Schriftfteller der Gegenwart und Vergangenheit wie Arthur
Rimbaud, Isidore Ducasse (Comte de Lautréamont), den Marquis de
Sade, aber ebenso für Maler wie Henri Matisse, Pablo Picasso, den
"Zöllner" Théodore Rousseau. Sie entdeckten Sigmund Freud.
So entgingen ihnen auch nicht die Aktivitäten der Dada-Bewegung,
die 1916 vorwiegend von jungen ausländischen Emigranten (Tristan
Tzara, Richard Huelsenbeck, Hugo Ball...) in Zürich gegründet
worden war, Leuten, die die bestehende, immer wieder zu Kriegen
führende soziale und ästhetische Ordnung durch die
Konstruktion absurder Texte und durch spektakuläre Happenings
radikal in Frage stellen wollten. Die Pariser Dichter sympathisierten
mit der Weltsicht und dem öffentlichen Auftreten der Züricher
Rebellen. Nicht nur begannen sie, Gestus und Stil der Dadaisten
nachzuahmen, sondern liessen auch im Januar 1920 das Haupt dieser
Gruppierung nach Paris kommen, den jungen Rumänen Tristan Tzara,
mit dem sie in den folgenden zweieinhalb/drei Jahren eine Reihe
gemeinsamer Veranstaltungen durchführten, aber auch Konflikte
austrugen, die im Frühjahr 1923 gar in öffentlichen
Prügelszenen und im (vorläufigen) Bruch zwischen den Parisern
und Tzara kulminierten.
Breton, Soupault, Aragon blieben nicht allein, Gleichgesinnte schlossen
sich ihnen an. Neben dem automatischen Schreiben unternahm man andere
Versuche, das Unbewusste manifest zu machen. Eine wichtige Rolle
spielten dabei die Wiedergabe von Träumen ("récits de
rêves", "Traumberichte") und das Sprechen in hypnotischem Schlaf,
teilweise als Antwort auf Fragen, die dem Schlafenden gestellt wurden.
Man gründete eine Zeitschrift, die die neuen Ideen illustrieren
und verbreiten, aber auch noch einen gewissen Kontakt mit der
anerkannten zeitgenössischen Literatur aufrecht halten sollte. Als
Titel dieser von 1919 bis 1924 erschienenen Zeitschrift wählte man
ironischerweise.Littérature.
Im Jahre 1924 hielten Aragon und Breton die Zeit für gekommen,
ihren Aktivitäten einen offiziellen Namen und eine theoretische
Grundlage zu geben. Aragon tat dies in poetischer Prosa mit seinem
Essay Une vague de rêves (Eine Traumwoge),
dessen Titel bereits andeutet, was er damals in den Mittelpunkt der
neuen Bewegung stellte. André Breton seinerseits verfasste
einen umfangeichen, quasi wissenschaftlichen Traktat, dem er den Titel Manifeste du surréalisme (Manifest des Surréalismus)
gab. Damit hatte man sich endgültig auf eine Bezeichnung
festgelegt ("surréaliste" bzw. "surréalisme"), die von
Apollinaire stammte und im öffentlichen Diskurs längst schon
auf die neue Literatengruppe angewandt worden war.
Immer stärker bildete sich als Zielsetzung der surrealistischen
Bewegung die Verwirklichung der "Revolution" heraus, die als
gewaltsame, totale Umstürzung der bürgerlich-westlichen,
christlich geprägten Gesellschaftsordnung sowie als totale
Umwandlung des Individuums begriffen wurde. Literatur und Kunst sollten
nicht um ihrer selbst willen gepflegt werden, sie sollten vielmehr als
Instrumente im revoliutonären Kampf dienen. Diesem Gedanken der
"Instrumentalisierung" der Literatur - wobei die
"Instrumentalisierung" ganz unterschiedliche Ausprägeformen
annehmen kann - wird Aragon zeit seines Lebens anhängen, ohne
allerdings diesen Ausdruck zu verwenden. Breton und Aragon rufen nach
Vernichtung der westlichen Kultur durch einen von ihnen mit
verblüffender Naivität ins Mythische erhobenen "Osten". Ihrer
neuen, Littérature ablösenden Zeitschrift gaben sie den programmatischen Titel La Révolution surréaliste (1924-1929); ihr "gérant" (Geschäftsführer ) war Louis Aragon.
Unter dem Eindruck der Wiederkehr des verhassten Krieges in Gestalt des
französischen Marokko-Krieges (1925) verschärfte sich die
Politisiertung der surrealistischen Gruppe. Insbesondere stellte sich
die Frage, ob es nicht notwendig oder sinnvoll sei, als Gruppe mit der
pazifistisch orientierten Kommunistischen Partei Frankreichs ( Parti
communiste - Section française de l'Internationale communiste -
SFIC) zusammenzuarbeiten. Diese Frage wurde schliesslich
individuell-pragmatisch dadurch beantwortet, dass mehrere Surrealisten
in die Partei eintraten. Aragon vollzog diesen Schritt am 6. Januar
1927. Im Gegensatz zu André Breton, Paul Éluard und
anderen, die die Partei alsbald wieder verliessen, blieb er bis zu
seinem Lebensende ihr aktives Mitglied.. Die rigiden Partei-Strukturen
konnten für den radikalen jungen Intellektuellen kein Hindernis
sein, hatte er selbst doch vorher bereits für die surrealistische
Gruppe die strukturellen Grundlagen einer noch namenlosen, aber
konspirativ arbeitenden revolutionären Kaderorganisation entworfen
und das Projekt seinen Freunden zur Billigung vorgelegt.
Aragon nahm an den meisten Aktivitäten der
Surrealistengruppe teil. Seine Texte bestätigen jedoch auch die
These, dass diese Gruppe keine homogene Kameradschaft mit einheitlicher
stilistischer Ausrichtung war , sondern dass es sich um den
Zusammenschluss von ehrgeizigen, selbstbewussten jungen Männern
mit stark ausgeprägten individuellen Zügen handelte, deren
Schreiben sich also von Person zu Person, von Dichter zu Dichter
unterschied. Vermutlich war ihnen neben einer atheistischen und
antiklerikalen Grundhaltung nur der Glaube an die fundamentale Bedeutung des
Unbewussten und an die wie auch immer verstandene "Revolution"
gemeinsam. Schon in Fragen der Sexualität waren sie sehr
unterschiedlicher Meinung, was insbesondere eine gruppeninterne Umfrage
(1928) bezeugt, in der Breton die Homosexualität scharf
verurteilt, während Aragon sie als eine sexuelle Aktivität
unter anderen gelten lässt.. Es ist aso ganz normal, dass es
bemerkenswerte Unterschiede zwischen Aragons Texten und
denen anderer Surrealisten gibt, was auf die Vielfältigkeit
des Surrealismus verweist, nicht jedoch auf Aragons
Nicht-Dazugehörigkeit, wie es später gelegentlich behauptet
wurde.
Trotz seinen vielseitigen Aktivitäten in der surrealistischen
Bewegung betrachtete Aragon die Entwicklung des Surrealismus mit kritischem
Auge In seinem mit grosser Verve geschriebenen Traité du style (1928; Traktat über den Stil)
weist er auf verschiedene grundsätzliche Gefahren hin, die den
Surrealismus von innen her bedrohen und zu seinem Verfall führen
könnten. Er greift insbesondere die verschiedenen Spielarten des
Eskapismus an: den Aufbruch in die Ferne, die Reise, das Abenteuer, die
religiösen Praktiken, die Drogen. "Il n'y a de paradis d'aucune
espèce.!" ("Es gibt keinerlei Art von Paradies!") Alle Paradiese
seien künstliche. Es gibt keinen Ausweg aus der conditio hunana.
Auch der (mit grossem Respekt betrachtete) Selbstmord ist keine
Lösung. Aus dieser Phase eines existenzbedrohenden Pessimismus
sollte Aragon einerseits durch die Entdeckung der kommunistischen
Sinngebung des Daseins und andererseits durch die Begegnung mit einer
Frau, der russischen Schriftstellerin Elsa Triolet, wenigstens teil-
oder zeitweise herausgeführt werden..
Aragons finanzielle Siruation war in den zwanziger Jahren stets
prekär . So bestritt er, nachdem er im Januar 1922 das
Medizinstudium abgebrochen hatte, seinen Lebensunterhalt eine
Zeitlang mit einem Stipendium, das ihm der Modeschöpfer,
Kunstliebhaber, Bibliophile und Mäzen Jacques Doucet
gewährte; als Gegenleistung musste Aragon für ihn Texte
schreiben, unter anderen über das aktuelle
literarisch-künstlerische Leben in Paris, wie er es aus
eigener Anschauung erfuhr.Diese spritzig-ironischen, kein Blatt vor
den Mund nehmenden Texte wurden, sofern erhalten, erst 1994 von Marc
Dachy unter dem von Aragon schon 1922 vorgesehenen Titel Projet d'histoire littéraire contemporaine (Entwurf einer zeitgenössischen Literaturgeschichte) veröffentlicht.. Aragons Tätigkeit als Chefredakteur der kulturellen Wochenzeitschrift Paris-Journalwar
von kurzer Dauer (von Anfang März bis Ende April 1923); die
Ausübung eines regelrechten "bürgerlichen" Berufs widersprach
der surrealistischen Lebensform. Das (scheinbare) Scheitern seiner
Bemühungen, mit dem Verkauf eines Braque-Gemäldes
zu Geld zu kommen, war einer der Gründe für seinen
Selbstmordversuch (Venedig, Herbst 1928). Um 1930 zog er
gleichsam als Handelsvertreter von Modehaus zu Modehaus, um dort
Schmuck zu verkaufen, den seine Lebensgefährtin Elsa Triolet
hergestellt hatte.. Wie bei anderen Schriftstellern war gelegentlich
der Verkauf von Manuskriptseiten (Autographen) an
finanzkräftige Sammler eine wichtige Geldquelle.Von seinen
Büchern konnte er nicht leben. Im April 1933 erhielt er eine
Anstellung als Redakteur der Parteizeitung L'Humanité, blieb dort aber nur nis Mai 1934.
Aragon liebte die Frauen, auch in Gestalt der Prostituierten. Heute
weiss man, dass vier herausragende weibliche Petsönlichkeiten,
drei von ihnen Ausländerinnen, ihn nachhaltig beeinflusst haben:
- die Amerikanerin Elizabeth Eyre de Lanux (1894-1996):
Künstlerin, Schriftftellerin, Möbeldesignerin; Geliebte
mehrerer bekannter Männer und Frauen. Sie erscheint im
Schlusskapitel des Paysan de Paris
als "Dame des Buttes-Chaumont" und verkörpert den "Übergang
von der Frau [der Frau als Gattungswesen] zu dieser Frau [der Frau als
einmaligem Individuum]".
- die Elsässerin Denise Lévy, geb. Kahn, verh.
Naville (1896-1969); Cousine von André Bretons erster
Frau Simone Kahn; Übersetzerin zahlreicher poetischer und
politischer Texte, besonders aus dem Deutschen; wird unter dem Einfluss
ihres Freundes bzw. Ehemannes Pierre Naville Trotzkistin; gibt das
reale Vorbild für die Gestalt der Bérénice in dem
Roman Aurélien ab.
- die Engländerin Nancy Cunard (1896-1965) aus der Familie
der Cunard Line Erben; die exzentrische Frau lässt Aragon die
"grosse Welt" kennenlernen, und verkehrt in Gesellschaftskreisen, denen
der Dichter finanziell nicht gewachsen ist.
- die Russin Elsa Triolet, geb. Kagan (1896-1970), eine
Schriftstellerin (Romane, Erzählungen, Essays, Übersetzungen
aus dem Russischen), die Aragon im Oktober 1928 in Paris kennenlernt.
Zunächst seine Lebensgefährtin, heiratet Aragon sie Ende
Februar 1939. Sie ist die grosse Liebe seines Lebens. Elsa Triolet ist
die Schwester von Lili (Lilja) Brik, der wichtigsten
Lebensgefährtin des sowjetischen Dichters Wladimir
Majakowskij, weswegen Elsa Triolet gern auch als Schwägerin
Majakowskijs bezeichnet wird.
Trotz seiner Verherrlichung der Frau und der Liebe zu ihr und trotz
seiner heterosexuellen Praktiken (auf die er selbst verweist) wollen
manche heutige Literaturforscher schon beim frühen Aragon eine
Neigung zur Homosexualität feststellen; allerdings gibt es
hierfür keine stichhaltigen mündlichen oder schriftlichen
Belege. Dass er die Homophobie André Bretons nicht teilte, ja
sie energisch zurückwies, bezeugt seine Liberalität, nicht
aber notwendigerweise eine eigene homosexuelle Neigung. Eine solche
wird nach Elsa Triolets Tod (1970) in Erscheinung treten und
unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Wie weit Aragons vermutliche
Bisexualität für die Interpretation seines Werkes von
Bedeutung ist, wurde bisher nicht nachgewiesen.
Seit 1929/30 kriselt es in der Surrealistengruppe aus ideologischen
Gründen. 1930 nimmt Aragon zhusammen mit Georges Sadoul am
internationalen Schriftftellerkongress in Charkow teil. Die beiden
Franzosen sehen sich genötigt, sich in zwei wichtigen Fragen
(Freudismus, Trotzkismus) schriftlich von der offiziellen Position der
Surrealisten zu distanzieren. 1932 kommt es zwischen Aragon und Breton
zum Bruch, der vordergründig durch Bretons Schrift Misère de la poésie (1932; Elend der Poesie)
ausgelöst wird, aber tiefer liegende Gründe hat,
z.B. die sich herausbildende unterschiedliche ideologische
Parteinahme der
beiden Freunde: Aragon für Stalin, Breton für Trotzki, Aragon
für den Realismus, Breton für den Surrealismus, usw.
Aragons Werk bis 1932
Aragon tritt Ende 1919 mit einem schmalen Gedichtband in die französische Literatur ein. Feu de joie (Freudenfeuer)
enthält 23 meist kurze poetische Texte, Gedichte, die, von Emotion und
Ironie geprägt, das Lebensgefühl eines jungen Menschen zum
Ausdruck bringen, der gerade dem Kriege entronnen ist. Mit Dada haben
sie nichts zu tun. Es gelingt Aragon, von Picasso eine Grafik für
das Titelblatt zu erhalten.
Gleichzeitig vollendet Aragon seinen an der Front begonnenen ersten Roman Anicet ou le panorama, roman (1921; Anicet oder das Panorama, Roman),
eine teilweise burleske, teilweise kriminalistische Geschichte, in der
sich die Verehrer der "modernen Schönheit" als Angehörige
einer Verbrecherbande erweisen. In diesem Erstlingsroman, der in seiner
Anlage stark vom Filmischen beeinflusst ist, behandelt Aragon u.a.
ästhetische Probleme und stellt die für die Existenz des
Mannes eminente Rolle der Frau und der Liebe programmatisch
heraus, eine Thematik, die Aragons gesamtes Werk durchziehen wird.
Es folgt 1922 Les Aventures de Télémaque (Die Abenteuer des Telemach) , eine moderne Kurzversion der auf Homers Odyssee und Fénelons Les Aventures de Télémaque zurückgehenden
Schilderung des Aufenthaltes Telemachs, des Sohnes des Odysseus, bei
der Nymphe Kalypso, der Ex-Geliebten seines Vaters. Der dank seiner
Bildersprache hochpoetische, eine "surrealistische" Welt
konstruierende Text ist mit provokanten Dada-Manifesten Aragons
durchsetzt. Der schmale Band zeugt vom damaligen radikalen Nihilismus
des Autors, gleichzeig aber auch von dessen poetischer Potenz zur Zeit
des Übergangs von Dada zum Surrealismus.
Schon das Kind Louis schreibt (oder diktiert) kurze Erzählungen,
von ihm als "Romane" bezeichnet. Einen dieser "Romane", die er als
Sechs- oder Siebenjähriger verfasst hatte, "Quelle âme
divine!" ("Welch göttliche Seele!"), nimmt er in den Band
von Erzählungen auf, den er 1924 unter dem Titel Le Libertinageveröffentlicht
und in dem sich die Texte befinden, die er
zwischen 1920 und 1923 geschrieben hatte, also zur Pariser
Blütezeit von Dada. Es sind Erzählungen (und zwei
Theaterstücke), die von unterdrückten oder frei ausgelebten
menschlichen Leidenschaften handeln, von ästhetischen und
moralischen Aussenseitern, von Egoisten, Schurken, negativen Helden,
von Vertretern des "homme moderne" ("modernen Menschen"), den - Aragon
zufolge - Amoralismus und Menschenverachtung kennzeichnen. Eine
Variante dieses "homme moderne" ist auch die emanzipierte Frau, die
insbesondere in der Erzählung "Madame à sa tour monte"
("Madame steigt auf ihren Turm") und in der monologischen
Erzählung "La femme française" ("Die
Französin") in Erscheinung tritt. Diese von der Kritik (in
Deutschland von dem Romanisten Ernst Robert
Curtius) hochgeschätzte Erzählung ist der Form nach eine
Art Tagebuch,
in dem eine verheiratete Frau ihre Wünsche, Sehnsüchte,
Überlegungen, Liebesabenteuer ungefiltert zur Sprache bringt.
Eine Frau dieses Typs ist das Gegenstück zur leidenden, passiven,
dienenden Frau, die dem Manne hörig ist bis in den von ihm
für sie gewollten Tod, - ein Frauenbild, das in dem
Theaterstück"Au pied du mur" ("In die Enge getrieben") von
der Gestalt der Mélanie verkörpert wird..Die Texte des
Bandes sind in sehr unterschiedlichen Schreibtechniken verfasst.
Seinen erzählerischen Texten schickt Aragon in Le Libertinageein
provokativ-aggressives Vorwort voraus. Diese "Préface
à l'édition de 1924" ("Vorwort zur Ausgabe von 1924")
setzt sich aus mehreren teils schon in Zeitschriften vorab publizierten
Prosatexten zusammen und ist nicht nur ein Generalangriff auf
traditionelle französische Werte wie die berühmte
"clarté française" ("französische Klarheit"),
sondern vor allem auch ein Plädoyer für "Le scandale pour le
scandale" ("Skandal um des Skandales willen"). mit dem Bekenntnis des
Autors: "Je n'ai jamais cherché autre chose que le scandale et
je l'ai cherché pour lui-même" ("Ich habe nie etwas
anderes gesucht als den Skandal, und ich habe ihn um seiner selbst
willen gesucht.") Das Vorwort enthält gleichzeitig einen Appell
zur "défense de l'infini" ("Verteidigung des Unendlichen"), eine
Formel, die Aragon zum Titel seines unvollendeten Romans La Défense de l'infini machen wird.
Zwei Jahre später, 1926, veröffentlicht Aragon seinen zweiten Gedichtband, Le Mouvement perpétuel (Perpetuum mobile), der die seit Feu de joie verfassten Gedichte enthält. Vor allem aber erscheint 1926 Le Paysan de Paris (Der Pariser Bauer) - nach einem Vorabdruck in Philuppe Soupaults Zeitschrift La Revue européenne - als Buch. Le Paysan de Paris ist - neben dem unvollendeten Roman La Défense de l'infini-
das surrealistische Hauptwerk Aragons, Es setzt sich aus vier Teilen
zusammen. Während der erste und der vierte Teil von
vorwiegend abstrakt-philosophischem Charakter sind, schildern die
beiden mittleren Teile auf anschaulich-poetische Weise
zwei Spaziergänge, die ebenfalls philosophisch deutbar sind:
einen durch die
"Passage de l'Opéra" kurz vor der Zerstörung dieser Passage
durch den um sich greifenden Urbanismus, und einen nächtlichen
Spaziergang mit befreundeten Surrealisten über die
Buttes-Chaumont, eine grosse Parkanlage im Nordosten von Paris. Das
Buch verfestigt eine bestimmte Ausrichtung des Surrealismus,
nämlich auf die Träume, auf das "merveilleux quotidien" ("das
Wunderbare im Alltäglichen"), auf die - wie Drogen berauschenden -
sprachlichen Bilder, auf die Liebe und die Frau, sowie auf die aus der
modern-technischen Welt ausgeschlossene Subjektivität. Im
deutschsprachigen Raum hat das Werk in Walter Benjamin einen
begeisterten Leser gefunden.
In den Jahren, in denen Aragon Le Paysan de Paris
schrieb, arbeitete er also ebenfalls an einem Roman, der
die Welt als ein grosses Bordell darstellen sollte. Als Titel
wählte er La Défense de l'infini (Die Verteidigung des Unendlichen); offenbar wollte er die Aufgabe, nach deren Erfüllung er im Vorwort von 1924 zu Le Libertinagegerufen
hatte, selbst übernehmen. Doch letzten Endes zog er es
vor, anlässlich eines Aufenthalts in Madrid (1928) sein
Manuskript, das angeblich schon tausend Manuskriptseiten
umfasste, grossen Teils zu verbrennen, u.a. wohl, um sich der
Verwerfung der
Gattung Roman seitens seiner surrealistischen Freunde anzuschliessen.
Der Nachwelt erhalten sind solche Teile des Romans, die Aragon bereits
an bibliophile Manuskript-Sammler verkauft oder selbst
veröffentlicht hatte
oder die Nancy Cunard an sich genommen hatte. Zu den geretteten
Texten gehört Le Con d'Irène (Irenes Möse),
eine umfangreiche, in sich abgeschlossene Erzählung, die 1929 -
mit sexuell eindeutigen Illustrationen des surrealistischen Malers
André Masson versehen - anonym "sous le manteau" ("unter
dem Ladentisch") erschien. Aragon hat sein ganzes Leben hindurch die
Autorschaft an diesem erotischen Text - von dem nach dem Zweiten
Weltkrieg auch mehrere Nach- oder Raubdrucke veröffentlicht
wurden, teilweise unter dem Pseudonym Albert de Routisie - in der
Öffentlichkeit abgestritten. Aragon-Forscher - als erster
Édouard Ruiz, dann Lionel Follet und Daniel Bougnoux - haben die
erhalten gebliebenen Textfragmente seit 1987 publiziert; diese lassen
vermuten, dass der Roman La Défense de l'infini
das Hauptwerk Aragons in seiner surrealistischen Periode hätte
werden können. In gewisser Weise lebt es insofern in Aragons
späterem Werk weiter, als hier immer wieder auf Themen und Motive
zurückgegriffen wird, die bereits im unvollendeten Roman zu finden
sind.
Neben seinen Prosatexten , zu denen auch die zahlreichen Rezensionen
und sonstigen Artikel zu rechnen sind, schreibt Aragon weiterhin
Gedichte. Es erscheinen La Grande Gaîté (1928; Die grosse Heiterkeit), sein pessimistischstes, negativstes Buch, und Persécuté persécuteur (1931; Der verfolgende Verfolgte),
das Aragons Übergang von der Verwerfung der bürgerlichen Welt
zum revolutionären, klassenkämpferischen Kommunismus
dokumentiert. Endpunkte dieses Weges stellen zwei provozierende,
wiederum auf Skandal ausgerichtete Gedichte dar: "Le temps des
cerises" ("Die Kirschenzeit") und "Front rouge" ("Rotfront"). Mit
"Le temps des cerises" greift Aragon als Collage den Titel eines
populären Liedes aus der Zeit der Pariser Kommune auf ; das neue
Lied endet mit dem Ruf nach einer GPU für Frankreich. Das
umfangreiche Gedicht "Front rouge" (1931) ist ein Aufruf zur
bolschewistischen Revolution in Frankreich, ein höchst
aggressiver, gegen Bourgeoisie und Sozialisten gerichteter Text, der
Aragon die Einleitung eines juristischen Verfahrens gegen ihn einbrachte; er wird
beschuldigt "der Anstiftung von Soldaten zum Ungehorsam und des Aufrufs
zum Mord zwecks anarchistischer Propaganda". Dieser Schritt der Justiz
führte in den intellektuellen Kreisen zu Parteinahmen pro und
contra Aragon : die "Affaire Aragon" war ausgebrochen. Die Tatsache,
dass Breton Aragons Gedicht in Misère de la poésie (1932; Elend der Poesie)
als "Gelegenheitsgedicht ("poème de circonstance") und
damit als Ausdruck einer altmodischen, , historisch überholten
Ästhetik qualifizierte, hat zur Entfremdung zwischen den
beiden Freunden beigetragen und den Bruch uwischen ihnen
vorbereitet. Aragon hatte in seinem polemischen Traité du style (1928; Traktat vom Stil) kritische Äusserungen zur Entwicklung des Surrealismus getan, aber treu zu Breton gestanden, als dieser im Second Manifeste du surréalisme (1929; Zweites Manifest des Surrealismus)
den Ausschluss alter Weggefährten aus der surrealistischen
Bewegung begründete. Als die Dissidenten mit dem Pamphlet "Un
cadavre" ("Ein Kadaver", gemeint ist Breton) Front gegen André
Breton bezogen, unterzeichnete Aragon eine
Solidaritätserklärung für seinen autoritären Freind.
Leben und Werk 1932-1939
In diesen Jahren verstärkt sich Aragons Engagement in der
kommunistischen Weltbewegung, an deren Spitze Stalin steht. Mehrmals
weilt er - nach der ersten Reise von August bis Dezember 1930 - in der
Sowjetunion: von Juni 1932 bis März 1933 (er gibt dort die
französische Fassung der Zeitschrift La Littérature internationale
heraus), von August 1934 bis Februar 1935 (im August 1934 nimmt er, mit
anderen französischen Schriftstellern, am ersten Kongress des
sowjetischen Schriftftellerverbandes teil), von Juni bis Ende
August/Anfang September 1936 (er nimmt an der Beisetzungsfeier für
den Schriftsteller Maxim Gorki teil). Er wird Zeuge der ersten grossen
Terrorwelle, der u.a. der damalige Lebensgefährte Lilis, der
Schwester Elsa Triolets, zum Opfer fällt.
Im April 1933 (nach anderen Angaben etwas später, Mai oder Juli 1933) wird er Redakteur und Reporter der Parteizeitung L'Humanité ,
die ihn zunächst nur mit der Rubrik "Verschiedenes" betraut Ein
Grossteil seiner Artikel erscheint unsigniert. In der Partei
herrscht der intellektuellenfeindliche Ouvrierismus. Ende Februar 1935
(nach anderen Angaben bereits im Juli 1933 oder im Mai 1934) wird er
von seiner Tätigkeit bei L'Humanité entbunden,
um sich - zusammen mit dem Journalisten und Romancier Paul Nizan - ganz
der Tätigkeit als Redaktionssekretär der Monatszeitschrift Commune widmen zu können. Diese erscheint seit Juli 1932 als Organ der neu gegründeten Association des Écrivains et Artistes Révolutionnaires
(AEAR). Sie veröffentlicht bis 1939 (im September wird sie wie die
gesamte kommunistische Presse von der französischen Regierung
verboten) zahlreiche Beiträge Aragons. Zuerst - mit Paul Nizan -
einer der beiden Redaktionssekretäre, wird Aragon später
Mitglied des Herausgebergremiums und schliesslich einer der beiden
Herausgeber (directeurs), - der andere ist Romain Rolland..Die
Zeitschrift führt von 1936 bis 1939 den Untertitel Revue littéraire française pour la Défense de la Culture, der auf den Namen des Congrès international des Écrivains pour la Défense de la Culture
verweist, der im Juni 1935 in Paris stattgefunden hatte und
an dessen Organisation Aragon führend beteiligt war. Er wird
Sekretär der aus dem Kongress hervorgegangenen Association Internationale des Écrivains pour la Défense de la Culture und Generalsekretär der Association des Maisons de la Culture.
Von Anfang März 1937 bis zu ihrem Verbot Ende August 1939 ist
Aragon (mit dem Schriftsteller Jean-Richard Bloch) Directeur und
Chefredakteur der 1937 gegründeten
kommunistischen Abendzeitung Ce soir,
die durch gefällige Gestaltung und ansprechende Inhalte auch
liberalen bürgerlichen Kreisen die antifaschistische Politik der
französischen KP nahebringen soll. Aragons Kommentare zur
politischen Entwicklujg in Europa, insbesondere seine tägliche
Kolumne "Un jour du monde" (seit dem 22. September 1938) sind hoch
interessant; sie harren noch einer kritischen Edition und
wissenschaftlicher Aufarbeitung.
Während all dieser Jahre des Kampfes für die Kultur war der
Gegner der internationale Faschismus und ganz besonders der deutsche
Nationalsozialismus. Nach dem Vorspiel des italienischen
Abessinien-Krieges (1935), der zu einer ersten öffentlichen
Spaltung der französischen Schriftfteller führte, brachte der
spanische Bürgerkrieg (1936-1939) das Kriegsgetümmel bis vor
die Tore Frankreichs. Wieder bezogen die französischen
Intellektuellen ihr jeweiliges ideologische Lager. Aragon
unterstützte - wie der grösste Teil der Linken - die von
Franco angegriffene Republik. Er tat dies täglich mit seiner
Zeitung Ce soir sowie mit
kulturellen Veranstaltungen in ganz Frankreich. Diese
Unterstützung erreichte einen Höhepunkt im Oktober 1936, als
Aragon und Elsa Triolet , begleitet von zwei deutschen Emigranten,
Gustav Regler (1898-1963) und Kurt Stern (1907-1959), im Lastwagew nach
Spanien reisen (Barcelona, Madrid, Valencia, Madrid), um Geschenke
der Association Internationale des Écrivains pour la Défense de la Culture
zu überbringen: einen Filmprojektor und einen Drucker. Elsa wird
diese Reise in einem erst 2001 veröffentlichten Text Dix jours en Espagne (Zehn Tage in Spanien)
beschreiben. Aragon unterstützt also durch diese Reise und durch
seine mannigfaltigen publizistischen Aktivitäten den Kampf der
spanischen Republik auf moralisch-ideologischer Ebene, er hat aber
nicht in militärischem Sinn in Spanien "gekämpft", wie in
einigen Lexika zu lesen ist und wie es vermutlich André Malraux tat.
Aragon sah sich wie seine Zeitgenossen mit den grossen Niederlagen des
Antifaschismus konfrontiert: dem "Anschluss" Österreichs an das
Deutsche Reich (12. März 1938), das Münchener Abkommen (29.
September 1938), die Besetzung der Rest-Tschechoslovakei (März
1939). Er hütete sich vor der Gleichsetzung des ganzen deutschen
Volkes mit den Nazis. Er verteidigte die Idee, dass es neben dem
offiziellen Deutschland das "andere" Deutschland gibt. So
veröffentlichte er z.B. Heinrich Manns Henri Quatre als Fortsetzungsroman in Ce soir.
Ergreifend ist seine grosse Rede "Reconnaissance à l'Allemagne"
("Dank an Deutschland") von 1939. Umso grösser sollte seine
Enttäuschung sein, als er im Krieg feststellen musste, dass es in
Deutschland keinen nennenswerten Widerstand gegen das Regime gab, ja
dass der Grossteil der deutschen Bevölkerung Hitlers Aktionen
mittrug.(siehe unten)
Als der unerwartete Abschluss des deutsch-sowjetischen
Nichtangriffspaktes (23. August 1939) tiefe Unruhe gerade auch
bei den französischen Kommunisten hervorrief, verteidigte Aragon
in Ce soir den Pakt in
illusionärer Verkennung der Fakten und in Unkenntnis des geheimen
Zusatzprotokolls als Sieg des Friedenswillens Stalins gegenüber
dem nun in seinen Kriegsabsichten angeblich gebremsten Hitler. Der
blinde Glaube an Stalin, den Aragon mit zahlreichen Intellektuellen
teilte, eine gewisse jakobinische Tradition, die Liebe zu Russland als
dem Heimatland Elsas, das Damoklesschwert der Verhaftung, das über
seiner Schwägerin Lili Brik schwebte, eine grenzenlose
Leichtgläubigkeit, ein Hang zu Provokation und Skandal, all das
liess Aragon über die negativen Seiten des sowjetischen Systems
hinwegsehen, sie leugnen oder sie rechtfertigen. So konnte er manchmal
als Sprachrohr der UdSSR erscheinen, etwa in dem Artikel
"Vérités élémentaires" ("Elementare
Wahrheiten") von 1936, in dem er die berüchtigten Moskauer
Prozesse verteidigte. Später hat sich Aragon von manchen seiner
Äusserungen explizit distanziert, sie aber auch nicht zu vertuschen
gesucht.
Die dreissiger Jahre, die - zumal nach der Bildung der
Volksfrontregierung (1936) - Aragons ganzen politisch-publizistischen
Einsatz verlangten, waren literarisch auch die Jahre, in denen er neben
einem Gedichtband Hourrah l'Oural (1934; etwa Es lebe der Ural) drei umfangreiche realistische Romane verfasste: Les Cloches de Bâle (1934; Die Glocken von Basel), Les Beaux Quartiers (1936; Die feinen Viertel; in der deutschen Übersetzung von Stephan Hermlin Die Viertel der Reichen betitelt) , Les Voyageurs de l'impériale (1939 abgeschlossen, 1942 veröffentlicht; Die Reisenden auf dem Oberdeck;in der deutschen Übersetzung von Hans Mayer Die Reisenden der Oberklasse betitelt). Für Les Beaux Quartiers
erhielt Aragon den renommierten Prix Renaudot.Auffällig ist, dass
die drei Werke zwar die politisch links orientierte Grundeinstellung
ihres Autors erkennen lassen, dass aber das Ideologische dem
Literarischen stets untergeordnet wird. Der Leser hat nicht den
Eindruck, dass er das Werk eines militanten Kommunisten liest; eher
könnte er den Eindruck gewinnen, dass hier die
Gesellschaftsdarstellung und -kritik eines Émile Zola ihre
moderne Fortsetzung und elegante Neufassung findet. In Les Cloches de Bâle
folgt der Leser denWegen einer jungen Frau, Catherine Simonidze, die
sich aus ihrem bürgerlichen Milieu lösen will und sich nach
mancherlei Emanzipationsversuchen der Arbeiterklasse nähert. Les Beaux Quartiersschildert
die Irrungen und Wirrungen zweier aus bürgerlichem
Milieu stammenden Brüder, von denen der eine, Edmond Barbentane,
durch Geschick, Gerissenheit und Skrupellosigkeit eine profitable, aber
moralisch verwerfliche
gesellschaftliche Karriere macht, während der andere, Armand
Barbentane, nach seiner Bekanntschaft mit den Härten des
Arbeiterlebens der Gewerkschaft beitritt, d.h. - in der moralischen
Perspektive des Romans - einen positiven Akt vollzieht. Derselben
bürgerlichen Familie entsprossen, gehen die beiden also
völlig getrennte Wege und beweisen damit, dass der Mensch von
seiner Herkunftsklasse moralisch nicht determiniert wird., sondern frei Entscheidungen fällen kann.
Aragons dritter Roman trägt den Titel Les Voyageurs de l'impériale.
Wörtlich genommen, bezeichnet dieser Ausdruck die Menschen, die
auf dem Oberdeck eines zweistöckigen Omnibusses sitzen.
Metaphorisch sind damit die Angehörigen einer Gesellschaft
gemeint, die ihr Leben, d.h. die Reise in den Tod, verbringen, ohne
zur Kenntnis zu nehmen, welche Kräfte, welche Maschinen und
Mechanismen da unten der Fortbewegung zugrunde liegen. Die deutsche
Übersetzung mit "Die Reisenden der Oberklasse" gibt dem Titel
einen völlig anderen Sinn. Der Roman, ein grosses Epos,
in dem sich auch Kindheit und Jugend Aragons und die Geschichte
seiner Familie spiegeln, freilich nach dem Prinzip des "mentir-vrai",
des "Wahr-Lügens", verfremdet, wurde unmittelbar vor Kriegsausbruch
beendet. Er erschien zuerst in englischer Übersetzung in den
Vereinigten Staaten (1941), was Aragon bis zum Kriegseintritt der USA
die so dringend benötigten Tantièmen einbrachte. Im
Dezember 1942 erschien bei Gallimard in Paris eine
französischsprachige Ausgabe, jedoch in einer verstümmelten
Fassung, für die wohl Jean Paulhan, der ehemalige Herausgeber der
Zeitschrift La Nouvelle Revue française,
verantwortlich war, dem die Veröffentlichung des Werkes ein
dringendes Anliegen war und der daher durch vorauseilende
Eingriffe in den Text die Genehmigung der deutschen Militärzensur
zur Veröffentlichung des Romans sicherstellen wollte. Die korrekte
französische Fassung liess Aragon 1947 erscheinen; diese ersetzte
er 1966 durch eine neu bearbeitete definitive Version..
Aragon gibt seinen Romanen seit Les Beaux Quartiers den übergeordneten Titel Le Monde réel (Die wirkliche Welt).
Dieser Romanzyklus umfasst ausser den eben genannten drei Romanen
noch die in den vierziger und fünfziger Jahren verfassten Romane Aurélien (1944) und Les Communistes (1949-1951; Die Kommunisten).
Aragon stellt seine Romane als französische Beispiele
für den "sozialistischen Realismus" hin,
eine ideologisch-literarische Richtung, die seit 1934 in der
Sowjetunion zum einzig erlaubten und geförderten Schreibmodus
geworden war. In mehreren Artikeln, die er zum Teil zu einem Buch mit dem Titel Pour un réalisme socialiste (1935; Für einen sozialiistischen Realismus)
zusammenstellte, erläuterte Aragon seine Konzeption dieser
Richtung. Es fällt jedoch schwer, diesen Ausdruck kommentarlos auf
Aragons eigene Werke anzuwenden, da er sich in seinen Romanen
keineswegs an die in der Sowjetunion aufgestellten Definitionskriterien
hält. Seine Romane stehen vielmehr in der Tradition des grossen
gesellschaftskritischen französischen Romans des 19. Jahrhunderts,
zu der er sich ausdrücklich bekennt. Man kann nicht umhin, Aragons
Festhalten an diesem Begriff auch in späteren Jahren als ein
Beispiel für seine Liebe zum Skandal zu betrachten. Man kann der
Auffassung sein, dass Aragons Hartnäckigkeit in dieser Hinsicht
der Rezeption seiner Romane bei einem weiten Publikum mehr
oder weniger geschadet hat. Der Leser suchte das Politische und
übersah dabei die Fähigkeit des Autors, sich mit seinen
sehr interschiedlichen Gestalten zu identifizieren, mit ihren Worten zu
sprechen ; die Ironie einzusetzen, packend, spitzfindig,
emotionalisierend zu erzählen.
Leben und Werk 1939 - 1945
Bei Kriegsausbruch wurde Aragon sofort eingezogen. Man steckte den Herausgeber von Ce soir
in ein Sonderregiment für politisch zweifelhafte Personen, doch
konnte Aragon seine Einheit wechseln und in die Sanitätsabteilung
einer Panzerdivision gelangen. Nach der "drôle de guerre", den
Monaten tatenlosen Wartens der französischen Streitkräfte auf
den deutschen Angriff, kam vom 10. Mai 1940 an der Fronteinsatz. Er
erlebte das Inferno von Dünkirchen; er gehörte zu den letzten
französischen Soldaten, die aus dem sich verengenden Kessel nach
Folkestone evakuiert werden konnten. . Von England aus wurden er und
seine Kameraden sofort nach Frankreich (Brest) weiterverschifft, um den
Kampf fortzusetzen. Der Rückzug der französischen Armee
führte Aragon schliesslich nach Javerlhac (Département
Dordogne), wo er von der Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrages
erfährt (22. Juni 1940) und er und Elsa sich wiederfinden (29.
Juni). Für seine Tapferkeit bei der Bergung Verwundeter wird er
mit dem Orden "Croix de guerre avec palme" und mit der "Médaille
militaire" ausgezeichnet.
Aragon und Elsa Triolet halten sich zunächst an verschiedenen
Orten der unbesetzten Zone auf: in Nizza, Carcassonne, Cahors (letzter
Besuch bei Aragons Mutter, die am 2. März 1942 sterben wird), in
Varetz , erneut in Carcassonne. Ende 1940 lassen sich Aragon und Elsa
in einer kleinen Pension in Nizza niede;; später wechseln sie die
Wohnung. Beim Einmarsch der italienischen Truppen verlassen sie Nizza
(November 1942) und leben von da an mehr oder weniger
versteckt im Département Drôme, zeitweise unter dem Namen
von Aragons Vater Andrieux.
Aragon schreibt seit seiner Einberufung Gedichte, die chronologisch den
Ereignissen des ersten Kriegsjahres 1939/40 folgen. Diese
ausserliterarischen Ereignisse werden, individualisiert,
verinnerlicht, emotionalisiert, in eine Sprache voller Schmelz
transponiert. Die meisten Gedichte erscheinen in Zeitschriften der
nicht-besetzten Zone und Nordafrikas. Im April 1941 bringt der Verlag
Gallimard , der in Paris geblieben war, diese Gedichte unter dem Titel Le Crève-coeur (Das Herzeleid)
als Buch heraus. Sie sind noch nicht Ausdruck eines politischen
Widerstandes, sondern vor allem Zeugnis der perrsönlichen Reaktion
des Individuums, des Soldaten und seiner Geliebten auf das
die ganze Nation erschütternde Geschehen. Ein Jahr
später (1942) erscheinen drei weitere Gedichtbändchen, davon
zwei in der Schweiz: Les Yeux d'Elsa (Elsas Augen) und Brocéliande (Brocéliande), und eines in Alger: Cantique à Elsa (Lobgesang auf Elsa; wird in der Folgezeit in den Lyrik-Band Les Yeux d'Elsa aufgenommen). 1943 erscheint - wiederum in der Schweiz - die Gedichtsammlung En français dans le texte (Französisch im Originaltext) und in dem französischen Untergrundverlag Les Éditions de Minuit das Poème Le Musée Grévin,
eine satirisch-sarkastische Auseinandersetzung mit den Chefs der
Kollaboration (Der Titel spielt auf das bekannte Pariser
Wachsfigurenkabintt an.)
Le Musée Grévin
markiert einen Einschnitt: Es ist das erste Werk Aragons, das in einem
Untergrundverlag veröffentlicht wurde, und es erscheint unter
einem Pseudonym: Der Verfasser nennt sich François La
Colère ("François der Zorn", "Der zornige Franzose"). Der
Ton dieser Gedichte ist ein anderer. Waren die Gedichte der ersten
Epoche weitgehend in einem elegisch-melancholischen Ton gehalten, folgt
mit den clandestinen Veröffentlichungen ein
aggressiv-kämpferischer. Hatte Aragon in den ersten
Kriegsgedichten Ablehnung und Zustimmung indirekt, vor allem mittels
literarischer und historischer Anspielungen, zum Ausdruck gebracht (er
wird später von einer "poésie de contrebande", einer
"Schmuggel-Poesie" sprechen, die sich dem Zugriff der Zensur zu
entziehen suchte), schleudert er jetzt seine Gegnerschaft zu Vichy
und seinen Kampfeswillen auf sprachlich direktem Wege aus sich
heraus. Auf eine Zensur brauchte nicht mehr Rücksicht genommen zu
werden. Diese kämpferischen Gedichte finden sich ausser in Le Musée Grévin in La Diane française (Ende 1944; Der französische Weckruf), einer Sammlung, die Aragons im Untergrund verbreiteten (9 oder 10) Gedichte sowie einige weitere Gedichte enthält.
Aragons Gedichtproduktion lief parallel zu seinen
Tätigkeiten in der Organisation des geistigen Widerstandes; er war
Chef der Dachorganisation der verschiedenen nationalen Komitees der
Südzone; er beteiligte sich an der Gründung des als
überparteilich gedachten Schriftstellerverbandes Comité Natinal des Écrivains (C.N.É.). Er war Mitarbeiter der clandestinen Zeitschriften Les Lettres françaises und Les Étoiles.
All diese zeitaufreibenden Tätigkeiten hinderten Aragon nicht
daran, nicht nur eine Reihe von offen widerständlerischen
Erzählungen zu schreiben (Servitude et Grandeur des Français (1945; Knechtschaft und Grösse der Franzosen), sondern auch eines seiner literarischen Hauptwerke Aurélien
(1944) zu verfassen , den weitgehend unpolitischen Roman einer unerfüllten
Liebe, der (bis auf den Epilog) im Paris der beginnenden zwanziger
Jahre des 20. Jahrhiunderts spielt.
Leben und Werk 1945-1956
Nach dem Kriege setzt Aragon seine verschiedenen Aktivitäten fort,
jetzt freilich zunehmend unter den Bedingungen und gemäss den
Schemata des Kalten Krieges, in dem er auf seine Weise Partei ergreift,
d.h.im wesentlichen der politisch-ideologischen Linie der
Kommunistischen Partei Frankreichs folgt, die er - zumindest
theoretisch - mitbestimmen kann, da er seit 1950 stellvertretendes
Mitglied und seit 1954 Vollmitglied des Zentralkommités ist. In
diesen Jahren verfestigt sich das negative Bild, das sich seine
nicht-kommunistischen Landsleute weitgehend von seiner
Persönlichkeit machen. Noch heute (2009) wirft sein Verhalten
Rätsel auf,
die seitens seiner Kritiker unterschiedliche
Erklärungsversuche erfahren, wobei das Lagerdenken immer noch eine
nicht unwesentliche Rolle spielt. Bei Aragon scheint die Neigung
zum Skandal geblieben zu sein, vermischt mit einem Glauben und einer
Hoffnung, von denen besonders krass seine zeitweilige publizistische
Unterstützung der Vererbungsthesen des sowjetischen Scharlatans
Lyssenko Zeugnis ablegt.
Aragon ist weiterhin journalistisch tätig.So leitet er erneut die wieder erscheinende Abendzeitung Ce soir, bis sie 1953 eingestellt wird. Im März 1953 übernimmt er offiziell die Leitung der kulturellen Wochenzeitung Les Lettres françaises; er
bleibt ihr Herausgeber bis 1972, als ihr von der Sowjetunion der
Geldhahn zugedreht wird als "Strafe" für Aragons vehementen
Widerspruch gegen den Einmarsch der Staaten des Warschauer Paktes
in die Tschechoslowakei (August 1968). Er hatte Les Lettres françaises zum Sprachrohr des "Prager Frühlings" gemacht.
Aragon mundtot zu machen hatten seine Gegner schon 1949 versucht, als
es ihnen gelang, einen Gerichtsbeschluss zu erwirken, der ihm für
zehn Jahre die staatsbürgerlichen Rechte entzog. Als Vorwand
hierfür diente eine Angabe im Artikel eines seiner
journalistischen Mitarbeiter, der in einem Bericht für Ce soir
irrtümlicherweise von "senegalesischen" statt von "marokkanischen"
Truppen geschrieben hatte. Aragons presserechtliche Verantwortung
für den Wahrheitscharakter des Inhalts seiner Zeitung musste
dafür herhalten, ihn der Verbreitung einer Falschmeldung zu
beschuldigen und ein Gerichtsverfahren in Gang zu setzen.
Die vielfältigen Erfahrungen in Krieg, Résistance,
erster Nachkriegszeit hatten in Aragon eine Tendenz
gefördert, die ihm in seinen jungen Jahren völlig fremd
gewesen war: die Neigung zu einem gelegentlich überspitzten
französischen Nationalismus. Bezeichnenderweise bekennt er sich
1948 zu einer geistigen Verwandschaft mit dem (1923 verstorbenen)
Nationalisten Maurice Barrès, für dessen literarischen Stil
er sich übrigens schon als Schüler begeistert hatte.
Auch Aragons Verhältnis zu Deutschland, dessen Kultur er immer
hochgeschätzt hatte, ist durch die Härte der deutschen
Besetzung Frankrechs , aber auch durch die tiefe Enttäuschung
darüber, dass es keinen nennenswerten Widerstand des deutschen
Volkes gegen das Naziregime gegeben hatte, gestört. So fordert er Ende 1944 in einem Artikel der Lettres françaises
deutsche Reparationen an Frankreich in der Form, dass alle Werke
französischer Künstler , die sich in Deutschland im Besitz
der öffentlichen Hand befänden, auch wenn sie seinerzeit
rechtmässig erworben worden seien, an Frankreich überstellt
werden müssten. Der deusche Schriftsteller Stephan Hermlin,
Emigrant, Kommunist, Widerständler, Verehrer Aragons,
protestiert öffentlich gegen eine solche Forderung und weist auf
die positiv-erzieherische Funktion dieser Kunstwerke gerade im
moralisch verkommenen Deutschland hin, doch Aragon lässt einen
zweiten Artikel folgen, in dem er seine Forderung trotzig wiederholt.
Beide Artikel lässt er in der Schweiz als bibliophile Luxusausgabe
unter dem vom Maler Watteau übernommenen Titel L'Enseigne de Gersaint (1946; Das Ladenschild von Gersaint) .In seinen mit Jean Cocteau geführten Entretiens sur le Musée de Dresde (1957; Gespräche über die Dresdener Galerie),
in denen auch zahlreiche französische Bilder der Sammlung
kommentiert werden, ist von solchen Forderungen natürlich nichr
mehr die Rede. Im Gegenteil: Aragon lobt die Rettung der Bilder durch
die (sowjetischen) Sieger und ihre Rückgabe an die deutschen
Eigentümer.
Als eine seiner vordringlichsten Aufgaben betrachtet Aragon die
Förderung des literarischen Schaffens jüngerer Autoren, die Vermittlung von
Literatur, die Weiterentwicklung und Weitergabe einiger theoretischer
Grundpositionen, deren wichtigste die Position des Realismus ist,
für die er sich seit seiner Trennung vom Surrealismus vehement
einsetzt (Pour un réalisme socialiste, 1935; Für einen sozialistischen Realismus).
Literaturkritik praktiziert er im wesentloichen als Einführung in
einen Autor, in ein Werk, in gewisse Aspekte eines Werkes oder einer
Gattung. Seine Devise, die er zur Devise des Kritikers schlechthin
machen möchte, lautet: "Savoir faire aimer" ("Der
Kritiker soll es fertig
bringen, Liebe zur Literatur hervorzurufen"). Damit distanziert
sich Aragon von den Kritikern, die ihre Aufgabe in erster
Linie darin sehen, auf Mängel eines Werkes hinzuweisen (bzw.
auf das, was ihnen als Mängel erscheint)..Nur ein Teil seiner
Artikel ist in Buchausgaben gesammelt.
In dem der Lyrik gewidmeten Teil seiner Ästhetik verteidigt Aragon
unter Berufung auf Goethe das "Gelegenheitsgedicht" ("poème de
circonstance"), dessen Wirkung auf die Leser er bei seinen im Krieg
verfassten Gedichten hatte erleben können. Ein Gedicht entsteht in
Bezug auf und im Rahmen von außerliterarischen Gegebenheiten, ist
aber erst dann Poesie, wenn die Worte den musikalischen Zauber des
"chant", des "bel canto" besitzen, der der sogenannten "poésie
pure" ("reine Dichtung") eigen ist, auf welche ein Abbé Bremond
oder ein Paul Valéry Dichtung reduzieren wollten. Zur
Illustration und Verteidigung seiner These schreibt Aragon seine
"Chroniques du bel canto". Diese Essays, 1946 in der Zeitschrift Europe und 1947 auch als Buch erschienen (Chroniques du bel canto)
sind eine Einführung in Aragons Konzeption der Lyrik anhand der
poetischen Neuerscheinungen des Jahres 1946. Von den Autoren der
Vergangenheit wird ihm Victor Hugo als realistischer und patriotischer
Dichter immer mehr zum Vorbild, an dem sich auch gegenwärtige
Dichter orientieren sollten. Er veröffentlicht u.a. die
kommentierteAnthologie Avez-vous lu Victor Hugo ? (1952; Haben Sie Victor Hugo gelesen?) und den Essay Hugo poète réaliste, 1952; Victor Hugo als realistischer Dichter). Während der Kalte Krieg seinen Höhepunkt erreicht, ruft Aragon nach einer "nationalen Poesie" (Journal d'une poésie nationale; 1954; Tagebuch einer nationalen Poesie).. In dem umfangreichen Poème Les Yeux et la mémoire (1954; Die Augen und das Gedächtnis)
weist der Dichter Forderungen seiner marxistisch-dogmatischen Kritiker
zurück, denen zufolge ein kommunistischer Maler keine
Naturdarstellungen malen dürfe, wenn in ihnen nicht auch ein
werktätiger Mensch gezeigt wird. Für die Lyrik
skizziert Aragon eine neue Parteiästhetik, in deren Zentrum
die Forderung (oder zumindest der dringende Rat) steht, die
zeitgenössischen kommunistischen Dichter sollten für ihre
profane Poesie die religiöse Metaphorik der christlichen Tradition
übernehmen.
Er selbst veröffentlicht in den Nachkriegsjahren mehrere Gedichtbände. Als erstes erscheint Le Nouveau Crève-coeur ((1948; Das neue Herzeleid)),
dessen erster Teil Aragons Enttäuschung über Frankreichs politische Entwicklung nach dem Krfieg und seine
Unzufriedenheit mit den neuen Vehältnissen zum Ausdruck bringt.
In den folgenden vier Teilen des Bändchens finden sich
einige der schönsten Gedichte Aragons. Es folgt das
ungefähr 3000 Verse umfassende Poème Les Yeux et la mémoire (1954; Die Augen und das Gedächtnis),
das einzige poetische Werk Aragons, das man als "Partei-Buch" bezeichnen
kann. Es ist eine Mischung von privater Erinnerung, Evokation
tagesaktueller Ereignisse, öffentlichem Bekenntnis, ideologischer
Belehrung und Polemik, Austragungsiort innerparteilicher Querelen, aber
auch Ausdruck von allgemeinmenschlichen Gefühlen und Stimmungen.
Zum ersten Male betrachtet der Dichter die Zeit des Surrealismus als
auch .positiv zu bewertende Jahre, - eine Einstellung, die man bereits
in seiner unvollendeten und erst, 1989 aus dem Nachlass
veröffentlichten autobiographischen Schrift Pour expliquer ce que j'étais (1943; Um zu erklären was ich war)
(1943/1989). Die Bindung an die Partei erweist sich als ein primär
emotionales Band: die Partei übernimmt in den Gefühlen des
Vaterlosen die Rolle des biologischen Vaters: Salut parti mon père désormais ("Heil Dir Partei mein Vater bist Du jetzt").
Parallel zu den Essays über lyrische Texte erscheinen Artikel
über Texte anderer Gattungen. Einige sind in den Sammelband La Lumière de Stendhal (1954:; Stendhals Licht)
eingegangen; Er enthält Aufsätze nicht nur über
Stendhal, sondern auch über Heinrich von Kleist, Marceline
Desbordes-Valmore, Émile Zola, Maurice Barrès usw. Der Band
interessiert auch wegen einiger autobiographischer Mitteilungen. Der
hybride Sammelband J'abats mon jeu (1959; Ich decke meine Karten auf)
präsentiert sich als ein Bekenntnis zur Modernität.
Gleichzeitig beruft sich Aragon auf den "Sozialistischen
Realismus". Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er
diesen Begriff weitgehend als eine aus der Sowjetunion übernommene
Worthülse verwendet, um ein Romanschreiben zu bezeichnen, das sich
in die Tradition des realistisch-gesellschaftskritischen
französischen Romans des 19. Jahrhunderts einreiht. Das gilt auch für den umfangreichen Roman Les communistes (1949-1951; Die Kommunisten).
Unter diesem provokanten Titel erzählt Aragon auszugshaft die
französische Geschichte von Februar 1939 bis Juni 1940 (vom
Ende des spanischen Bürgerkriegs bis zum Inferno von
Dünkirchen). Eine Vielzahl von Gestalten, die oft reale Menschen
als Modell haben, erlaubt dem Autor, ein differenziertes Bild von der
Vielfalt der Meinungen und Aktivitäten der
französischen Gesellschaft in jenem Zeitraum zu entwerfen. Es
ist auch ein Kriegsroman, bei dem Aragon autobiographisches
Material verarbeiten konnte. Eigentlich sollte der Roman inhaltlich den
gesamten Zeitraum des Zweiten Weltkriegs umfassen, doch liess Aragon
das Werk unvollendet, wie er es bereits bei La Défense de l'infini
getan hatte. Dass er aus seinem früheren Mitarbeiter Paul Nizan
die unsympathische Romangestalt Orfilat macht (P. Nizan war
nach dem Hitler-Stalin-Pakt aus der KP ausgetreten und wird jetzt
offenbar "abgestraft"), hat Aragon viel Sympathie gekostet. Bei
der Neubearbeitung des Romans Les communistes (1966)
streicht Aragon die gesamte Gestalt Orfilat und erkennt damit die
Berechtigung der Einwände seiner Kritiker stillschweigend an.
Seit jeher aufgeschlossen für ausserfranzösische Sprachen und
Kulturen, versucht Aragon in dem jetzt betrachteten Lebensabschbnitt
gerade auch die sowjetischen Literaturen dem französischen
Leser zu vermitteln. Als Herausgeber der Reihe Littératures soviétiques
lässt er bei Gallimard französische Übersetzungen
zeitgenössischer sowjetischer Romane erscheinen und gibt einen
Gesamtüberblick über die sowjetischen Literaturen in dem Buch
Littératures soviétiques (1955).
Leben und Werk 1956-1963
Als nächstes Poème erscheint Le Roman inachevé (1956; Der unvollendete Roman im Sinne von "Das unvollendete Leben"). Das Werk kann als Fortsetzung von Les Yeux et la mémoire und gleichzeitig als dessen Gegenstück betrachtet werden. Enthielt Les Yeux et la mémoire gewisse autobiographische Züge, so handelt es sich bei Le Roman inachevé durchweg um eine Autobiographie Aragons, aber in Versform. Standen in Les Yeux et la mémoire
allgemeine Probleme der gegenwärtigen Zeit im Mittelpunkt des
dichterischen Diskurses (Krieg und Frieden, die atomare Bedrohung, die
ideologische Zweiteilung der Welt, die Rolle der kommunistischen
Partei, Vorschläge für eine neue marxistische Dichtung usw.),
so bringt Aragon in Le Roman inachevé
seine privaten Gefühle, Gedanken, Wünsche zum Ausdruck, dies
alles in ständigem Bezug zu den historischen "Umständen"
("circonstances"). Die literarisch interessierte Öffentlichkeit
nahm, sofern sie guten Willens war, einen veränderten Aragon wahr.
Noch nie hatte er sich - unverschlüsselt - so ausführlich
über sein Ich geäussert. Hier evoziert er seine Kindheit,
seinen Werdegang, das soziale Umfeld, in dem er aufgewachsen ist, und
die psychologischen Strukturen, die sein Denken und Handeln bedingten.
Es sind persönliche Bekenntnisse eines Mannes, der sich von
(offenbar) bedingungslos akzeptierter Fremdbestimmung zu
lösen begonnen hat. In die Zeit der Abfassung des Poème
fällt die Enthüllung der Verbrechen Stalins auf dem 20.
Parteitag der KPDSU: erste Reaktionen auf dieses Ereignis lassen sich
in Le Roman inachevé
erkennen. Neu bei Aragon ist sicherlich nicht das Wissen von Stalins
Verbrechensherrschaft und Diktatur (schliesslich war selbst Lili Brik,
die Schwester Elsa Triolets, als Lebenspartnerin des sowjetischen
Generals Primakow, der 1937 hingerichtet wurde, von der Stalinschen
Willkür betroffen); neu ist vielmehr Aragons öffentliches
Bekenntnis, dass er sich aus unkritischer Begeisterung für ein
utopisches Weltbild hat täuschen lassen bzw. bereit war, sich
täuschen zu lassen.
Zwei Jahre nach dem Poème Le Roman inachevé erscheint1958 der grosse Roman La Semaine sainte (Die Karwoche).
Die Handlung folgt der historischen Karwoche des Jahres 1815, in der
Napoléon und seine Truppen vom Süden Frankreichs nach Norden
ziehen und König Ludwig XVIII. zum Verlassen des
französischen Territoriums zwingen. Zentrale Romangestalt ist der
Maler Théodore Géricault (1791-1824), der mit
schlechtem Gewissen den königlichen Truppen angehört, aber
politisch desorientiert ist und einen persönlichen Ausweg
für sich sucht, den er schliesslich in der Kunst, in der Malerei
findet. Die innere Zerrissenheit des Malers findet ihr Gegenstück
in dem unterschiedlichen, widersprüchlichen Verhalten der
Generäle, die zwischen Loyalität gegenüber dem
König und Hinwendung zu Napoléon schwanken. Der Roman
spiegelt die Desorientierung französischer Intellektueller und
Aragons selbst angesichts der politischen Weltlage nach dem Zerfall der
ideologischen Gewissheiten. Der Roman ist Aragons Antwort
auf den 20. Parteitag der KPDSU . Er wählt das historische Gewand,
um sich freier ausdrücken zu können. So erregte dieses Werk
grosses Aufsehen in Frankreich; man betrachtete es vielfach als Absage
des Autors a den "sozialistischen Realismus", auch wenn Aragon eine
solche Absicht bestritt. Schon der Titel des Werks , der auf die
katholische Liturgie verweist (auch wenn man in Frankreich bei
Verwendung des Begriffs in einem historischen Kontext weiss, was
gemeint ist)., erregte Aufsehen, zumal da Aragons vorangegangener Roman
Les communistes
betitelt war. Auch Skeptiker betrachteten den Roman als
Rückkehr Aragons in die klassische französische
Romantradition; zum ersten Male seit langem wird er von der
"bürgerlichen" Kritik und Öffentlichkeit wieder als
Schriftfteller wahrgenommen und gefeiert.
Mit dem Poème Elsa
(1959) greift Aragon erneut die Liebe als zentrales Thema auf, diesmal
ohne jede Anspielung auf die zeitgenössischen "circonstances".Les Poètes (1960; Die Dichter)
ist eine Art Poetik, eine Abfolge von Gedichten unterschiedlicher
Form und unterschiedlichen Inhalts, die um Dichtung, Dichter, Liebe
kreisen.
Masslos wie immer, macht sich Aragon alsbald an die gleichzeitige
Abfassung zweier Werke, von denen jedes den vollkommenen Einsatz seiner
Kräfte verlangt, zumal da beide ein extensives Quellenstudium
verlangen. Das eine Werk ist eine dreibändige Geschichte der
Sowjetunion von Lenin bis Chruschtschow: Histoire de l'U.R,S.S. (1962; Geschichte der U.d.S.S.R).
Es handelt sich um ein gesponsertes Verlagsunternehmen, das eine
gewisse weltpolitische Entspannung (Stichwort: "friedliche Koexistenz"
der Grossmächte) zum Anlass nehmen will, die unterschiedliche
Entwicklung der beiden Weltmächte parallel zueinander
darzustellen: während Aragon nämlich die sowjetische
Geschichte von 1917 bis Januar 1960 referiert, erzählt der
französische Schriftfteller André Maurois die Geschichte
der USA.; daher der Obertitel des Gemeinschaftswerkes Histoire parallèle . Aus den Briefen Elsa Triolets an ihre Schwester wissen wir, welche Mühe Aragon die Abfassung seines Teils dieser Histoire parallèle kostete.;
schliesslich war er kein professioneller Historiker oder gar
Spezialist der Geschichte der Sowjetunion, worauf er auch
ausdrücklich hinweist. So enthält er sich weitgehend direkt
wertender Aussagen und liefert eher eine mit zahlreichen Zitaten
unterfütterte Chronik der Ereignisse von 1917 bis 1960. ("et
au-delà", "und darüber hinaus"). Eine Unzahl von Fakten
und Dokumenten wird angeführt. So ist Aragons Text weitgehend
"trocken", der Stil äusserst dicht und gerafft, vor allem dank
einer auffallend häufigen Verwendung von Partizipialsätzen,
die den lateinischen Ablativus absolutus evozieren und die
Rezensenten mit Recht an Tacitus denken liessen. Dieses Stilmittel gibt
dem Leser das Gefühl, dass sich die geschichtlichen Ereignisse
geradezu überschlagen. Das Werk vermittelt einen Einblick in
Aragons Sicht der Sowjetunion Ende der fünfziger Jahre, eine
Sicht, die insgesamt - natürlich - positiv, aber im einzelnen nicht
unkritisch ist (wobei die kritischen Stimmen meist selbstkritische,
aus dem sozialistischen Lager stammende sind). Im letzten Kapitel setzt
sich Aragon mit der Utopie auseinander, die im Menschen Hoffnungen
erweckt, die die Realität, die Politik nicht erfüllen
kann und so zu Enttäuschungen führt..Daher nennt Aragon
die Utopie einen "Streikbrecher" ("briseur de grève"). Eine kritische Würdigung dieses
Geschichtswerkes seitens eines (einer) Spezialisten (tin) bleibt ein
Desiderat.
Das zweite Werk, das Aragon zeitweise parallel zu seiner Histoire de l'URSS schreibt, ist Le Fou d'Elsa (1963; Elsas Narr).
Man kann in ihm Aragons poetisches Haupt- iund Meisterwerk sehen.
Dieses epische Poème von 425 Seiten, an das sich ein Anhang
"Lexique et notes" ("Lexikon und Anmerkungen") und ein detailliertes
Inhaltsverzeichnis anschliessen, transponiert sowohl aktuelle als auch
überzeitliche Probleme des Menschen in die Welt des islamischen
Königreichs Granada, d.h. in die Jahre vor und nach dem Sturz
dieser letzten Bastion des Islams auf spanischem Boden durch die
katholischen Könige (1492). Aragon erzählt die
Geschichte jener entscheidenden Jahre, die das weitere Schicksal
Spaniens bestimmten. Er erzählt dies mittels der zahlreichen
Gestalten, die er auftreten lässt, sei es als Ich-Sprecher oder
sei es als Erzähler in der ersten oder dritten Person.
Antagonistisch stehen sich König Boabdil und der
Strassensänger Kéis Ibn Amir gegenüber. Der König
hat den Untergang seiner Person und seines Reiches vor Augen und
symbolisiert damit den Menschen schlechthin, der notwendigerweise
seinem Tode entgegengeht. Der Strassensänger ist Dichter, und er
ist gleichzeitig der Medjnoûn, der Narr, der so genannt wird,
weil er eine Frau der Zukunft närrisch liebt und
besingt, Elsa. Das Muster, das Aragon diesem Liebespaar
zugrunde legt, ist das aus der persischen Dichtung stammende Paar
Medjnoûn - Leïla, auf das sich auch schon Goethe
berufen hatte. So ist Aragons Werk eine Reflexion über Liebe und
Zukunft. Nicht aus einer Doktrin der Kollektivität kann eine
bessere Welt entstehen, sondern nur aus der gelebten Praxis des
einzelnen Paares. So wird "le couple"
("das Paar") zum neuen Ideal menschlicher Existenz und zum Kern einer
neuen Gesellschaft: "Sein Traum von Mann und Frau zusammen, einer dem
anderen Antwort auf jede Frage, die nichts voneinander trennen kann,
woraus die Güte der Welt entsteht und die Schönheir des
Tages." Im Zusammenhang dieser Liebesmystik (die man bis zum ganz
jungen Aragon zurückführen kann) fällt immer wieder
leitmotivisch der Satz, der die Zukunft des Mannes in Relation zur Frau
definiert: "L'avenir de l'homme est la femme"
("Die Zukunft des Mannes ist die Frau"), ein Satz , der mindestens
für zwei Interpretationen offen zu sein scheint: Was ist mit
"l'homme" gemeint: der Mann oder der Mensch? Die Antwort dürfte auf S. 166 der französischen Originalausgabe zu finden sein: "l'homme" ist hier eindeutig der Mann. Der Satz wird vielfach falsch zitiert: "La femme est l'avenir de l'homme".
Es handelt sich aber bei Aragon nicht um eine Definition der Frau,
sondern um eine solche des Mannes. Das Werk stellt Suimma und
Höhepunkt des aragonschen Feminismus dar.
Leben und Werk 1964-1982
Drei umfangreiche Romane, deren Stil und Struktur deutlich von
Aragons früheren Romanen abweicht, ein Band mit
Erzählungen, zwei Künstlermonographien, ein Bändchen
über Collagen in Kunst und Literatur, ein Sammelband mit Artikeln
über Kunst und Künstler, fünf Gedichtsammlungen, drei
Bücher über sein eigenes Schreiben und zwei vielbändige
Sammelwerke, die sein erzählerisches und poetisches
Gesamtwerk enthalten: das ist Aragons literarische und
literaturkritische Produktion in den letzten 18 Jahren seines Lebens.
Hinzu kommt seine journalistische und kulturpolitische Tätigkeit,
insbesondere als Herausgeber der kulturellen Wochenzeitschrift Les Lettres françaises (1953-1972) und als Verfasser von Artikelserien z.B. in der politischen Wochenzeitung France nouvelle. Im Jahr 1972 müssen Les Lettres françaises ihr
Erscheinen einstellen, weil die Sowjetunion ihre Subventionen streicht
als Bestrafung für den Kurs der Zeitschrift, die den "Prager
Frühling" offen unterstützt und den Einmarsch der
Staaten des Warschauer Paktes in die Tschechoslovakei verurteilt
(August 1968). Unvergessen ist z.B. der Artikel, mit dem Aragon
angesichts der Gleichschaltung der Künstler im besetzten Land
(Stichwort: "Normalisierung") vor einem Hinsiechen der Kultur in der
CSSR warnt.und dabei mit Anspielung auf die Hungersnot in Afrika
(Nigeria) von der Gefahr spricht, es könne in der Tschechoslovakei
zu einem "Biafra
des Geistes" kommen. Bereits 1965 hatte er in einem Offenen Brief, den
die Parteizeitung L'Humanité
veröffentlichte, im Namen der Meinungsfreiheit gegen die
gerichtliche Verurteilung der sowjetischen Schriftfteller
Siniawski und Daniel protestiert. Insbesondere tritt er in jenen Jahren
für die Öffnung seiner eigenen Partei auf politischem wie auf
kulturellem Gebiet ein.. Allerdings tat Aragon dies stets mit der
Absicht, die Partei von innen her zu läutern und für die
Öffentlichkeit bestimmte Paukenschläge zu vermeiden, was zu
manchen Missverständnissen und Vorwürfen führte. Er
unterstützt z.B. auch den damals noch marxistischen)
Kulturpolitiker Roger Garaudy und dessen Konzept eines "réalisme
sans rivages" ("Realismus ohne Ufer"), ja macht daraus einen
"modernisme sans rivages". Als Erfolg der reformerischen
Aktivitäten Aragons im Sinne der kulturellen Öffnung gilt
auch, dass auf der Sitzung des Zentralkomités der KPF in
Argenteuil (März 1966) eine weitgehend von Aragon verfasste
Resolution angenommen wurde.
Die Romane
Drei grosse Romane erscheinen zwischen 1965 und 1974: La Mise à mort, Blanche ou l'oubli, Théâtre/Roman. Sie
alle brechen mit Aragons bisheriger Romantechnik. Sie lassen sich nicht
mehr als modernisierte Weiterführung des klassischen
französischen Romans des 19. und der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts verstehen; es sind vielmehr Romane der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts, insbesondere in ihrer freien Erzähltechnik
und ihren metasprachlichen/metapoetischen Einschüben.
La Mise à mort (1965; Die Tötung)
ist ein Roman über den Roman, über den Realismus, die Liebe, über
das Problem der "other minds" und gleichzeitig eine
Auseinandersetzung des erzählenden und reflektierenden Ichs mit
dem Stalinismus. Das Ich versucht, diesen von innen heraus zu
beschreiben und zu analysieren. La Mise à mort ist
ein komplex-komplizierter Roman. Er wimmelt von literarischen und
historischen Anspielungen bzw. Spiegelungen. So wird z.B. die
historische Gestalt des Arztes, Ministers und "Favoriten der
(dänischen) Königin Caroline Mathilde", Johann Friedrich
Struensee (1737-1772) , eingearbeitet . Breiten Raum nehmen
Überlegungen über die Doppelheit des Menschen ein, seine
Aufspaltung in ein gutes und ein böses Wesen, in einen Dr Jekyll
und einen Mr Hyde. Der Ich-Erzähler des Romans ist ebenfalls ein
Doppelwesen und trägt dementsprechend zwei Namen, Alfred und
Anthoine.
Zwei Jahre später erscheint Aragons nächster Roman, Blanche ou l'oubli (1967; Blanche oder das Vergessen).
Dieser Roman greift auf originelle Weise die linguistische Diskussion
auf, die Mitte der sechziger Jahre in Frankreich geführt wird, und
setzt gleichzeitig die Abrechnung mit dem Stalinismus fort. Auch
hier verwendet Aragon das Verfahren, aktuelle Themen und Probleme in
Zitaten zu spiegeln, die der literarischen Tradition entnommen sind
(Hölderlin, Flaubert). Zeitgenössische historische Ereignisse
bilden den Hintergrund zahlreicher Episoden.
Aragons letzter Roman ist Théâtre/Roman betitelt (1974; Theater/Roman).
Eines seiner Motive ist die Übertragung der alten Metapher "Leben
ist Theater" auf alle Bereiche der menschlichen Existenz. Zentral
ist die Aussage "L'amour est aussi un théâtre"
("Liebe ist auch ein Theater"). Aragons Roman ist ebenfalls eine
Meditation über dasAltern: Der junge Schauspieler Romain
Raphaël begegnet dem alten Mann, der er selbst einmal sein wird.
Es ist ein Roman über den Wandel, dem alles Seiende unterworfen
ist, der Mensch wie die ihn umgebende Welt. Der Roman folgt nur
teilweise einer eindeutigen Handlungslinie; er ist auch eine Sammlung von Essays
über das menschliche Dasein. Zeitlich ist er unter anderem dadurch
situiert, dass in ihm die grossen Pariser Bauten der sechziger und
beginnenden siebziger Jahre als Handlungshintergrund evoziert werden.
Auch die erzählerische Einführung und Diskussion des
neuen Regietheaters dient der zeitlichen Orientierung des Lesers.
Formal unterscheidet sich Théâtre/Roman
von allen anderen Romanen Aragons darin, dass er narrative oder
reflektierende Prosatexte durch poetische Texte ablöst (also Texte
in Gedichtform, in freien, nicht reimenden Versen)..
Zu den Romanen der sechziger und siebziger Jahre tritt der Band Le Mentir-vrai (1981; Das Wahr-Lügen). In ihm sammelt Aragon seine seit 1924 (d.h. seit der Veröffentlichung von Le Libertinage) verfassten Erzählungen. Einige von ihnen waren im Laufe der Jahre bereits erschienen, vor allem die Serie Servitude et grandeur des Français (1945; Knechtschaft und Grösse der Franzosen). Der Band Le Mentir-vrai enthält
auch die titelgebende Erzählung "Le mentir-vrai" von 1964,
in der Aragon in erzählerischer Form Grundgedanken zu einer
Poetik des Romans oder der Novelle entwickelt. Viel zitiert wird auch
die Erzählung "La valse des adieux" (1972), mit der sich Aragon
von den Lesern der Lettres françaises
verabschiedet und die das Geständnis enthält:: "J'ai
gâché ma vie et c'est tout." ("Ich habe mein Leben
verpfuscht und das ist alles.")
Die poetischen Werke
Aragons poetisches Schaffen nach Le Fou d'Elsa ist in fünf Publikationen vereint:
- Le Voyage de Hollande et autres poèmes (1964; Die Hollandreise und andere Gedichte). Der
erste Teil des Bändchens ist von einer Hollandreise inspiriert,
die Aragon und Elsa Triolet im verregneten Sommer1963 unternahmen. Die
Gedichte des zweiten Teils sind unterschiedlichen Themen gewidmet. Hier
findet sich auch das Gedicht "La Messe d'Elsa" (Die Elsa-Messe) , in dem der Dichter seine Liebe ins Liturgische erhebt.
- Il ne m'est Paris que d'Elsa (1964; Paris ist mir nur durch Elsa gegeben) evoziert vor allem Momente des gemeinsamen Lebens mit Elsa. Einige Gedichte waren schon früher veröffentlicht worden.
- Élégie à Pablo Neruda (1964; Elegie auf Pablo Neruda). Ein Zeugnis der Sympathie für den chilenischen Dichter und Freund Aragons.
- Les chambres (1969; Die Schlafzimmer). Meditationen Aragons über sein Verhältnis zu Elsa.
- Les Adieux (1981; Der Abschied). Aragons letzte unveröffentlichte Gedichte.
Autobiographisches
Aragon hat sich wiederholt ablehnend über die
Autobiographie als Gattung geäussert.(Le Roman inachevé gehört nicht zur Gattung Autobiographie) Andererseits finden sich in seinem
literarischen und kritischen Werk zahlreiche direkte und indirekte
Aussagen über sein Leben, sein Werk und über seine
schreibenden Zeitgenossen. Aragon ist Teil und Zeuge seiner Zeit. Das
beginnt mit den Artikeln, die er 1923 für seinen Mäzen
Jacques Doucet schrieb (Projet d'histoire littéraire contemporaine; Entwurf einer zeitgenössischen Literaturgeschichte)
und die erst 1994 veröffentlicht wurden. Während des Zweiten
Weltkrieges (vermutlich 1943) begann er eine autobiographische
Rückschau, die Fragment geblieben ist und als solches 1989
publiziert wurde: Pour expliquer ce que j'étais (Um zu erklären, was ich war). Über nahezu alle Perioden seines Lebens äussert er sich in seinen Gesprächen mit Dominique Arban (Aragon parle avec Dominique Arban, 1968). Einzelne Themen erörtert er in seinen Gesprächen mit Francis Crémieux (Entretiens avec Francis Crémieux,
1964). Die Rolle, die in seinem narrativen Werk der Romananfang
für den Fortgang des entsprechenden Romans spielt, behandelt er in
seinem Buch Je n'ai jamais appris à écrire ou Les incipit (1969; Ich habe niemals schreiben gelernt oder die Incipit). Als er von 1964 bis 1974 sein erzählerisches Gesamtwerk neu herausbringt (OEuvres romanesques croisées d'Elsa Triolet et Aragon ),
versieht er jedes seiner Werke mit einem ausführlichen Vor- oder
Nachwort, das vielfach autobiographischen Charakter hat. Ab 1974
veröffentlicht er eine
fünfzehnbändige Gesamtausgabe seines poetischen Werkes (L'OEuvre poétique)
und verfährt ähnlich, muss die Arbeit aber aus
gesundheitlichen Gründen abbrechen. Sein Briefwechsel , der bisher
nur ansatzweise veröffentlicht wurde, enthält
natürlich ebenfalls Autobiographisches:: "Le Temps traversé", 1994; Papiers inédits 1917-1931, 2000.
Schriften über Kunst
Wie in all seinen Schaffensperioden schreibt Aragon auch im Alter
zahlreiche Texte über Kunst und bildende Künstler,
ein Teil dieser Texte wurde in Sammelbänden vereint.
Genannt seien hier der Auswahlband Écrits sur l'art moderne (1981; Schriften über die moderne Kunst), das Bändchen Les collages (1965; Die Collagen)
, in dem Aragon seine Artikel zum Thema Collagen in der modernen
Kunst und Literatur gesammelt hat und das auch die gerade heute
besonders aktuelle Schrift La Peinture au défi (1930; Die herausgeforderte Malerei)
enthält, sowie Aragons gesammelte Texte über den Maler Alain
Le Yaouanc (1980), ergänzt durch das Büchlein La petite phrase (2002; Der kleine Satz) . Dem Maler Henri Matisse hat Aragon das umfangreiche zweibändige Werk Henri Matisse, roman (1971) gewidmet. Seine Artikel und Gedichte auf Picasso sind verstreut geblieben.
Gesamtausgaben
Das gesamte literarische Werk Aragons ist heute (2009) in sieben
Bänden der Bibliothèque de la Pléiade
(Éditions Gallimard, Paris) leicht zugänglich. Zahlreiche
Einzelwerke liegen in preiswerten Taschenbuchausgaben vor, die Artikel
und Rezensionen der Jahre 1918 bis 1932 in Chroniques I (1998)..
Letzte Aktualisierung: 2. September 2009
Wolfgang Babilas, Romanisches Seminar der Universität Münster (Allemagne)
Anmerkungen
Anm.01.