Das Seminar behandelt Texte der neueren soziologischen Gewaltforschung unter dem besonderen Gesichtspunkt des radikalen Gegensatzes zwischen rationalistischer Theorie und Praxeologie. Dieser Gegensatz ist relevant, weil (1) ein zentraler Bezugspunkt dieser Texte nach wie vor die kritische Auseinandersetzung mit der (mangelnden) Triftigkeit rationalistisch-individualistischer Handlungserklärungen darstellt. (2) Die zumeist avisierte Alternative der Analyse »situativer Momente« geht den Weg der Praxeologie (z.B. Bourdieu) und neigt damit dazu, jede Form des Erklärens als (verklärendes) Erklären-Wollen unter das Allgemeine der Strukturreproduktion zu subsumieren. (3) Die wesentlichen theoretischen Beiträge lösen sich heute gerade nicht von dem genannten Gegensatz (sondern formulieren bestenfalls moderierende Zwischenpositionen) und tragen damit zur relativen Unterbestimmtheit der (unterschiedlichen, heterogenen) Formen institutionalisierter Handlungskoordination in einem breiteren Diskussionszusammenhang bei. Wie können aber dann die Gründe und Ursachen konkreten Handelns (zu denen auch die Motive gehören) überhaupt besprochen werden? Wer oder was (bzw. welche Konstellation) erzeugt die Plausibilität und Legitimität der Zuschreibung eines »Motivs« bei Gewalt? Lässt sich diese Frage überhaupt beantworten, wenn - in der allgemeinen handlungstheoretischen Diskussion wie auch in der Gewaltforschung - die Differenz zwischen z.B. rechtlicher Konsistenz (als Signum einer institutionalisierten Rationalitätssphäre) und der Ebene situierten Handelns übergangen wird? Eine Pointe des Seminars lautet: Solange der Bann anhält, kann etwa das Recht als Sphäre institutionalisierter Rationalität kaum in ein (Spannungs-)Verhältnis zur Ebene habituell regulierter Interaktion gebracht werden. In diesem Verhältnis liegt aber das womöglich entscheidende Phänomen, wenn die Soziologie nicht nur historisierend an ihre differenzierungstheoretischen Einsichten erinnert; sondern in empirischen Studien bspw. der konkreten »Lösung« des Hinweisens auf eine Videoaufzeichnung durch einen Richter beim Vermitteln der Spannung zwischen alltagsweltlich-plausibler Absichts-Zuerkennung und juristisch-konsistenter Vorsatz-Zuschreibung ernst nehmen möchte.
- Lehrende/r: Tino Minas