Tagtäglich ereignet sich eine nahezu unendliche Anzahl von Geschehnissen: Vom Krieg in der Ukraine und in Nahen Osten, über Naturkatastrophen, die Verkündung von Unternehmens-Quartalszahlen, politische Sitzungen in den Bundes- und Landtagen bis hin zu den Spielen der Fußball-Bundesliga. Demgegenüber stehen einerseits journalistische Berichterstattungskapazitäten. Diese sind – einschließlich der verfügbaren Anzahl und Arbeitszeit der Redakteur*innen und Reporter*innen sowie des in Zeitungen, TV-Nachrichtensendungen und auf Startseiten von News-Websites verfügbaren Raums – begrenzt (Lippmann, 1922, S. 338; Shoemaker & Vos, 2009, S. 24). Daher müssen Journalist*innen als Beobachter*innen der Gesellschaft relevante Informationen für die Nachrichtenberichterstattung auswählen, während sie andere Ereignisse unberücksichtigt lassen. Ebenfalls begrenzt (sogar in Zeiten schier unendlicher Newsfeeds in Sozialen Medien etc.) sind die Aufmerksamkeit, die zeitlichen Ressourcen und die kognitiven Verarbeitungsressourcen der Rezipierenden (Tandoc, 2018, S. 246). Zudem bestehen mediale und nicht-mediale Alternativen zum Nachrichtenkonsum, die ebenfalls um rezipierendenseitige Aufmerksamkeits- und Zeitressourcen konkurrieren. Auch die Rezipierenden müssen daher bei der Nachrichtenrezeption selektiv vorgehen und – wenn sie sich überhaupt für die Rezeption von Nachrichteninhalten entscheiden – zwischen verschiedenen Nachrichteninhalten und -angeboten auswählen. Das Ergebnis dieser beiden nachrichtenbezogenen Selektionsprozesse (einerseits auf journalistischer Seite und andererseits auf Seite der Rezipierenden) kann die Wahrnehmung der Realität und die (politische) Meinungsbildung der Medienrezipierenden beeinflussen (Shoemaker & Vos, 2009, S. 3).
Methodisch werden solche Selektionsprozesse – insbesondere im Hinblick auf die veröffentlichte journalistische Berichterstattung – oft inhaltsanalytisch mit so genannten Input-Output-Analysen untersucht (vgl. Engelmann, 2016). Auf Nachrichten bezogene Selektionsentscheidungen lassen sich aber auch in (labor-)experimentellen Studien untersuchen, wie sie sonst in ähnlicher Form etwa in medizinische Studien zum Einsatz kommen. Dort erhält meist eine Gruppe von Proband*innen ein neues Arzneimittel, während eine Kontrollgruppe mit einem Placebo oder einem herkömmlichen Präparat versorgt wird, um die Wirksamkeit des neuartigen Wirkstoffs (im Vergleich mit der Kontrollgruppe) zu überprüfen (für ein aktuelles Beispiel: https://tinyurl.com/yte65ykj). In kommunikationswissenschaftlichen Selektionsstudien kommen statt Medikamenten stattdessen (journalistische) Medieninhalte (z.B. journalistische Berichte und
Reportagen, aber auch nutzergenerierte Posts in den Sozialen Medien usw.) als Stimulusmaterial zum Einsatz. Diese werden dabei hinsichtlich der interessierenden abhängigen Variablen gezielt manipuliert, sodass verschiedene Untersuchungsgruppen gebildet werden können. Ziel ist der Nachweis eines Einflusses der Manipulation auf verschiedene abhängige Variablen wie z.B. der Frage danach, unter welchen Bedingungen ein Nachrichtenartikel vom Publikum zur Rezeption ausgewählt wird oder unter welchen Umständen jemand einen Artikel in den Sozialen Medien teilen würde (oder eben nicht).
Ziel und Stärke des (labor-)experimentellen Designs ist die Möglichkeit des Kausalschlusses, also das Zurückführen einer Wirkung auf den Stimulus als Ursache. „Damit eine explanative Studie einen eindeutigen Kausalschluss zulässt, müssen mindestens zwei Untersuchungsgruppen gebildet und unterschiedlich behandelt sowie schließlich hinsichtlich der interessierenden Wirkungen verglichen werden (Experimentalgruppe vs. Kontrollgruppe). Bei einem Experiment wird dabei mit exakt vergleichbaren Gruppen gearbeitet (durch zufällige Zuordnung der Untersuchungsobjekte zu den Gruppen: Randomisierung).” (Döring & Bortz, 2016, S. 193). Im Seminar werden wir uns den gesamten Arbeitsprozess einer experimentellen Studie gemeinsam (im Plenum und/oder in kleinen Arbeitsgruppen) erarbeiten und in einer kleinen Fallstudie praktisch anwenden. Thematisch soll dabei ein nachrichtenbezogener Selektionsprozess untersucht werden. Zum Beispiel: Werden politische Nachrichten eher gelesen, wenn die Inhalte stärker personalisiert sind? Werden negative Nachrichten eher gelesen als positive? Spielt der sprachliche Stil in der eine Nachricht verfasst wurde oder das Vorhandensein eines spektakulären Bildes eine Rolle? Die durchzuführenden Arbeitsschritte umfassen unter anderem die Konzeptionierung des Forschungsdesigns, die Erstellung des (manipulierten) Stimulusmaterials, die Konstruktion des Fragebogens (inkl. Skalenkonstruktion für latente Variablen, Prüfung der Manipulation sowie der Randomisierung und der Aufmerksamkeit der Proband*innen), die Datenbereinigung und die statistische Datenanalyse. Alle diese Schritte erfolgen unter Anleitung und mit Input des Dozenten.
Döring, N, & Bortz, J. (2016). Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften (5. Aufl.). Springer.
Lippmann, W. (1922). Public Opinion. MacMillan.
Shoemaker, P. J., & Vos, T. (2009). Gatekeeping Theory. Routledge.
Tandoc, E. C. (2018). Journalism as gatekeeping. In T. P. Vos (Ed.), Journalism (pp. 235–254). de Gruyter Mouton.
- Lehrende/r: Lars-Ole Wehden