Der französische Historiker Pierre Nora (*1931) hat den Begriff der Erinnerungsorte (frz. lieux de mémoire) geprägt. Damit beschreibt er Orte, an denen sich das kollektive Gedächtnis einer sozialen Gruppe verdichtet und die dadurch als historisch-soziale Bezugspunkte die eigene Erinnerungskultur prägen. Erinnerungsorte haben daher für soziale Gruppen eine identitätsstiftende Funktion. Jede soziale Gruppe verfügt explizit oder implizit über solche Erinnerungsorte, seien es geographische Orte, Personen, mythische Figuren, Ereignisse, physische Artefakte, Rituale, Bräuche oder Symbole. Nora selbst hat die Idee der Erinnerungsorte vor allem mit der Dimension der Nation verbunden, sie hat aber recht schnell auch Anwendung auf andere soziale Gruppen gefunden.
In diesem Seminar wollen wir uns mit Erinnerungsorten der Kirchengeschichte der Ukraine beschäftigen, von der Taufe der Kyjiwer Rus (988) bis zum Tomos über die Autokephalie der Orthodoxen Kirche der Ukraine (2019). Dabei ergibt sich mit Blick auf die Ukraine die hochproblematische Situation, dass viele ihrer Erinnerungsorte zugleich auch von russischer Seite als Erinnerungsorte der eigenen (Kirchen-)Geschichte reklamiert und instrumentalisiert werden. Vor dem alles überlagernden Hintergrund des kriegsverbrecherischen Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine, der nicht nur ein Angriff auf die ukrainische Staatlichkeit, sondern dezidiert auch auf die ukrainische Identität ist, bekommen die Konflikte um die konkurrierende Geschichtsdeutung eine besondere Brisanz. Die russische ‚Gegenerinnerung‘ werden wir daher im Seminar im Sinne einer ‚Dekolonialisierung der Erinnerung‘ stets mitbehandeln und problematisieren.
- Lehrende/r: David Christian Kulke