Die traditionelle Erkenntnistheorie begreift den Prozess der Erkenntnis zumeist als zweigliedrige Relation zwischen dem erkennenden Subjekt und dem zu erkennenden Objekt, ohne dabei die soziale Umgebung in Rechnung zu stellen. Auch wenn der schottische Philosoph Thomas Reid (1710–1796) bereits früher auf die soziale Bedingtheit menschlicher Erkenntnis hinwies, hielten weitere Überlegungen dieser Art erst nach der Etablierung der Soziologie als eigenständige Wissenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts nachhaltig Einzug in die Philosophie. Der polnische Mikrobiologe und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck (1896–1961) schrieb in seinem Hauptwerk Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache von 1935 sogar: „Jede Erkenntnistheorie, die diese soziologische Bedingtheit allen Erkennens nicht grundsätzlich und einzelhaft ins Kalkül stellt, ist Spielerei“ (1980 [1935]: 59). Seit den 1970er-Jahren hat sich unter dem Titel der „Sozialen Erkenntnistheorie“ ein lebendiger Forschungszweig entwickelt, der sich mit den sozialen Faktoren befasst, die menschliche Erkenntnisprozesse nicht nur rahmen, sondern fundamental beeinflussen. Ziel des Seminars ist es, anhand breit gestreuter und einsteigerfreundlicher Texte die Vielfalt des Themas zu illustrieren und einen Überblick darüber zu gewinnen, wie sich die Beschäftigung mit der sozialen Dimension der Erkenntnis über verschiedene Jahrzehnte und (Sub-)Disziplinen hinweg entwickelt hat.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2024/25