Jede soziale Gemeinschaft bezieht ihre Identität, ihr „Wir-Bewusstsein“ in erheblichem Maße aus der Besinnung auf gemeinsame Ursprünge. Dies gilt in besonderer Weise für Gesellschaften des Mittelalters, weil hier erstmals seit dem Ende des römischen Reichs Gruppenidentitäten in Europa schriftlich formuliert werden. Auf diese mittelalterlichen Identitätskonstruktionen greift schließlich das Nationalbewusstsein in modernen Staaten vielfach zurück.
Aus heutiger Sicht erscheinen mittelalterliche Gründungsnarrative von Königreichen, Klöstern, Bistümern, Städten und anderen Korporationen oftmals als Fiktion, weshalb man im anthropologischen Sinne von Gründungs-„Mythen“ spricht. Die norröne Literatur nimmt diesbezüglich im europäischen Kontext eine Sonderstellung ein: Einerseits sind die auf vorchristliche, mündliche Traditionen zurückgehenden Götter- und Heldensagen als Grundlage von Identitätskonstruktionen besonders präsent, andererseits besteht gleichzeitig eine enge Rückbindung an europäische Gelehrsamkeit und dort zirkulierende Gründungsmythen. All diese Aspekte trugen nicht nur zu einem skandinavischen Bewusstsein über die eigene Besonderheit bei, das sich bereits im Hochmittelalter manifestiert. Unter wechselnden Vorzeichen brachte dieses Sonderbewusstsein bis in die schwedische Großmachtzeit und in die Nationalromantik hinein immer neue Gründungsmythen hervor, denen sich die Vorlesung auf die Spur begibt.
- Lehrende/r: Roland Scheel