Der Begriff Behinderung ist mehrdeutig. Erstens gibt es einen kodifizierten juridischen Sprachgebrauch, der mit­bestimmt, wie die Rechts­ansprüche und -pflichten behinderter Menschen geregelt sind. Zweitens handelt es sich um einen Fachbegriff, der in gleich mehreren Wissenschaften (der Medizin, Psychologie, Soziologie, (Heil-)Pädagogik, den Disability studies etc.) in – mehr oder minder – wohldefinierter Bedeutung verwendet wird. Drittens gibt es in Bezug auf die Ver­wendung des Prädikats „ist behindert” (oder auch: „ist ein­ge­schränkt”, „ist beeinträchtigt” oder „wird behindert”) eine alltagssprachliche Ver­wendung. Im Seminar werden wir zunächst diese verschiedenen Begriffsprägungen kennenlernen, von­ein­an­der abgrenzen und im Hinblick auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede diskutieren.

Bei allen Divergenzen gibt es doch in einer grundlegenden Hinsicht weithin Einigkeit: Mit der Zuschreibung von Behinderung werden nicht nur spezifische Merkmale der betroffenen Menschen beschrieben, sondern es wer­den auch normative Aussagen darüber festgeschrieben, wie man Menschen mit Behinderung behandelt oder wie sie behandelt werden sollen. Diese normativen Zuschreibungen können in ethischer Hinsicht proble­ma­tisch sein (man denke an Diskriminierungen oder Stigmatisierungen), sie können aber auch zur Stärkung der Rechte von behinderten Menschen führen.

Damit kommt der politisch, rechtlich und ethisch intensiv diskutierte Pro­blem­bereich der Inklusion von Men­schen mit Behinderung in den Blick. So formuliert etwa der Artikel 3 („General principles”) der sog. UN-Be­hin­­der­ten­rechtskonvention (Convention on the Rights of Persons with Disabilities, 2006) als eine der zentralen Grund­nor­men für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung: „Full and effective participation and in­clu­sion in society”. Aber was bedeutet diese sehr allgemein formulierte Forderung, wenn man sie auf konkrete Handlungskontexte bezieht und die Bedürfnisse und Ansprüche von Menschen mit Behinderung angemessen be­rücksichtigt? Im zweiten Teil des Seminars werden wir ausgewählte philosophische Positionen aus dieser um­fangreichen Debatte rezipieren und diskutieren. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei den Bereichen der Ar­beitswelt und der schulischen Aus- und Weiterbildung. Ge­ra­de in diesen Bereichen ist die genaue Aus­ge­stal­tung gelungener Inklusion besonders umstritten und viele Expert:innen ziehen im Hinblick auf den Erfolg bis­heriger Inklu­sions­be­mühungen eine negative Bilanz. Wir werden der Frage nachgehen, worin das Ziel um­fassender Inklusion bestehen sollte – und woran Inklusion scheitern kann.

Voraussetzung für die Teilnahme ist die Bereitschaft zur Lektüre philosophischer Texte und die Bereitschaft zur regelmäßigen und engagierten Teilnahme an den Diskussionen im Seminar.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2024/25