Gesellschaften sind stets im Wandel begriffen. Dieser Wandel vollzieht sich allerdings nicht bruchlos, sondern schreibt sich mit dem Ausgang der Moderne ein als Krise, die sich über vielfältige Erscheinungsformen historisch manifestiert hat. Was der (Spät-)Aufklärung als „Drangsale der Gesellschaft“ (Friedrich Schiller) allmählich zu Bewusstsein kam, wächst sich im Laufe des 19. Jahrhunderts aus als „chronische Krisis“, was die Kultur als einen Prozess der „Tragödie“ erscheinen lässt (Simmel). Über Krisen rationaler Lebensführung, die am „stahlharten Gehäuse“ mitzimmern (Max Weber), bis hin zur Arbeitslosigkeit als ästhetisches Krisenphänomen (Siegfried Kracauer), hat sich die soziologische Gegenwartsanalyse zurechtzufinden in verschiedene gesellschaftliche Krisenphänomene, die sich, vor allem mit Beginn der Postmoderne zugleich konstituieren aus Individualisierungs- und Flexibilisierungsprozessen (Sennett) sowie fragmentierten Lebensbiographien, was wiederum hindeutet auf eine „flüchtige Moderne“ (Zygmunt Bauman). Vermittelt durch Geldwirtschaft, Konkurrenzlogik und kapitalistischem Erfolgsstreben schließen sich altbekannte Phänomene der Vergangenheit wie Wirtschaftskrisen kurz mit akuten Problemen der Gegenwart und binden sich zusammen zu Verwertungsimperativen. Letztere greifen u. a. aus in die digital-ökonomische Sphäre der Influencer (Schmitt/Nymoen) oder bilden die Grundlage zu einer beschädigten Öffentlichkeit, die sich mit dem „ungehemmten Wuchern“ von Meinungen (Adorno) am völkisch-nationalistischen „Diskurs“ anschlussfähig hält.
Gerade was letzteren Punkt betrifft, scheint es in einem Exkurs geboten, auch sozialpsychologische Befunde nicht unberücksichtigt zu lassen, und zwar nicht nur dort, wo vielschichtige Mechanismen der Triebstruktur zur gesellschaftlichen Aggressivität ausarten (Herbert Marcuse), sondern ebenso an jener historischen Nahtstelle, in der ein Prozess von der Normalität der Krise zum kollektiven (Massen-)Mord einsetzt (Harald Welzer). Damit steht die soziologische Gegenwarts- und Krisendiagnose mit einem Bein in den Ruinen des 20. Jahrhunderts (Hans Mayer), während sie die Destruktionskräfte des 21. Jahrhunderts, vermittelt über den Widerspruch von Individuum und Gesellschaft, Kulturschöpfung und -Zerstörung gesellschaftstheoretisch zu antizipieren hat.
Mit Veranstaltungsbeginn werden Textauszüge zur Verfügung gestellt, die von den Teilnehmenden vorbereitet und im Plenum gemeinsam diskutiert werden sollen. Die Bereitschaft zu intensiver Lektüre wird ebenso vorausgesetzt wie die Offenheit und das Interesse für theoriegeleitete Fragestellungen.
Fragen zur Lernorganisation, Studien- und Prüfungsleistung werden in der ersten Sitzung geklärt.
- Lehrende/r: Kevin Rick Doß