Mit der Neuzeit erscheint die Gesellschaft als ein Gegenstand, der einer eigenen Gesetzlichkeit unterliegt. Mehr noch, die Gesellschaft zeigt sich als eine Natur, die sich die Gesetze, denen sie unterworfen ist, selbst gibt (Friedrich Jonas). Erst unter dieser Voraussetzung wurde sie zu einem Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung. Schon die frühe Gesellschaftslehre im Übergang zum 19. Jahrhundert hatte sich daher mit der Naturalisierung des Sozialen im Sinne einer Gesellschaft als „geistige Kristallisation“ auseinanderzusetzen (Friedrich Buchholz). Während noch für die französischen Materialisten der Aufklärung (Holbach) die Frage im Raum stand, wie frei der Mensch sein könne unter den konstitutiven Bedingungen von Natur, beginnt mit dem Begriff von der Naturgeschichte des Sozialen die bürgerliche Gesellschaft allmählich ein Bewusstsein ihrer selbst zu erlangen (John Millar). Diese Entwicklung ist insofern widersprüchlich als das zeitgleich ein Prozess einsetzt, der über den kapitalistischen Arbeits- und Produktionsprozess den Menschen zugleich von dieser Natur entfernt bzw. entfremdet (Marx). Was Hegel bekanntlich unter dem Begriff der „zweiten Natur“ fasste, verselbständigt sich gegenüber dem Menschen und bindet ihn – mal mehr, mal weniger widerspruchsfrei – ein in einen institutionellen Rahmen, der seine eigene Geschichte nicht mehr durchsichtig werden lässt. Darauf reagierte u. a. die philosophische Anthropologie mit Invektiven, die die Macht der menschlichen Natur, ihr exponiertes Wesen wieder in den Mittelpunkt zu rücken suchten (Helmuth Plessner).
Das Seminar lädt dazu ein, über das schwierige Verhältnis von Gesellschaft und Geschichte mit Blick auf den Naturbegriff zu reflektieren. Dabei werden wir uns von der materialistischen Aufklärung und über den Geschichtsbegriff bei Herder zu einem Gesellschaftsbegriff vorarbeiten, der die Beherrschung der Natur als substantielles Merkmal mitführt, die sich schließlich gegen die vergesellschaftete Natur des Menschen kehrt. Wesentlichen wissenssoziologischen Naturverständnissen wie das von Nobert Elias werden wir ebenso begegnen wie dem Versuch der Befreiung der Natur als Mittel der Befreiung des Menschen (Herbert Marcuse).
Mit Veranstaltungsbeginn werden Textauszüge zur Verfügung gestellt, die von den Teilnehmenden vorbereitet und im Plenum gemeinsam diskutiert werden sollen. Die Bereitschaft zu intensiver Lektüre wird ebenso vorausgesetzt wie die Offenheit für eine forschungspraktische Haltung.
Fragen zur Lernorganisation, Studien- und Prüfungsleistung werden in der ersten Sitzung geklärt.
Zur Einführung und Vertiefung: Hans Medick: Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Vandenhoeck & Ruprecht 1973.
- Lehrende/r: Kevin Rick Doß