Dass im Schatten der Tempelanlagen der Akropolis Menschen lebten, ihren Geschäften nachgingen und starben, ist keine neue Erkenntnis. Bereits in den 50er Jahren stellte Moses Finley die provokante Frage, ob griechische Zivilisation, Demokratie und Identität nicht fundamental von der Ausbeutung unfreier Arbeitskräfte abhänge – eine Perspektive, die im Zuge zahlloser Einzeluntersuchungen zu verschiedenen sozialen Gruppen in der Forschung nur an Bedeutung gewonnen hat. Nicht nur die Ausbeutung von Sklaven, von Migranten, Frauen, Kleinbauern und anderen marginalisierten Gruppen gewährleistete einer kleinen städtischen Elite ihre Sonderrolle – zumindest in klassischer Zeit etablierten die Athener mit dem Attisch-Delischen Seebund ein komplexes Herrschaftssystem, das auf die wirtschaftliche und politische Kontrolle der Bündnispartner abzielte und Athen eine Sonderstellung in der antiken Welt einbrachte, die sie erst spät in der Kaiserzeit verlieren sollte.

In der Übung wollen wir uns mit dieser spannungsvollen Gemengelage von wechselhafter politischer und wirtschaftlicher Situation und sozialer Ordnung beschäftigen. Bei der Auseinandersetzung mit dem „anderen Athen“ liegt unser Fokus dabei klar auf Phänomenen sozialer Ungleichheit (und ihrer Reproduktion) und sozialer Kohäsion, und auf aktuellen Forschungsfragen aus dem Umkreis des De- und Postcolonialism sowie der Genderforschung. Eine für die antike Welt einzigartig reichhaltige Quellenlage wird es uns nicht nur ermöglichen, tief in die Verfasstheit der athenischen Gesellschaft und die Handlungsspielräume ihrer einzelnen Gruppen hineinzuschauen, sondern sie in ihrer lokalen Bedingtheit „von unten“ mit den Entwicklungen der athenischen und griechischen Geschichte zu kontextualisieren.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2024/25