„Was ist Wahrheit?“, fragt Pilatus rhetorisch im Johannesevangelium (18, 38) den Christus, und das soll wohl heißen: „Jeder hat doch ohnehin seine eigene Auffassung davon, was die Wahrheit sei!“ Seltsam an dieser impliziten Auskunft des Pilatus ist aber, dass wir die Sache dabei nicht bewenden lassen, sondern Fragen der Wahrheit eifrig argumentativ miteinander verhandeln und uns dabei am Ziel der Herstellung eines vernünftigen (nicht etwa erzwungenen oder durch die Mehrheit entschiedenen) Konsensus orientieren. Es gibt wohl viele Auffassungen davon, was Wahrheit ist, aber das Ziel unserer wahrheitsbezogenen Diskurse scheint gerade darin zu bestehen, /die/ Wahrheit zu finden.

Im Seminar soll der Frage des Pilatus deswegen mit etwas größerer Gründlichkeit nachgegangen werden als durch den Fragesteller selbst: Was ist Wahrheit? – oder sprachphilosophisch gewendet: Was meinen wir damit, wenn wir etwas /wahr/ nennen? Diese Frage soll anhand eines wichtigen Texts der deutschen Wahrheitstheoriedebatte des letzten Jahrhunderts diskutiert werden, nämlich anhand des Aufsatzes /Wahrheitstheorien/ (1973) von Jürgen Habermas. Habermas knüpft an das v.a. durch die Erlanger Schule verfolgte Programm an, den Begriff der Wahrheit ohne korrespondenztheoretischen Rekurs auf den Begriff der Tatsache zu explizieren, um bei der Beschreibung der Einlösung von Wahrheitsansprüchen nicht in empiristische oder rationalistische Varianten desjenigen zu verfallen, was Sellars /The Myth of the Given/ genannt hat. Die kritische Lektüre dieses Versuchs im Seminar soll auf eine Diskussion des in der deutschen Tradition umfangreich verhandelten Zusammenhangs von Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Ästhetik hinführen, wie ihn Habermas unter anderem in der///Theorie des kommunikativen Handelns///(1981) entwickelt hat.

Semester: ST 2024