Am 24. Februar 2022 überfiel Russland großangelegt die Ukraine und eskalierte den seit 2014 im Osten der Ukraine schwelenden Krieg in einer zuvor für nicht möglich gehaltenen Art und Weise. Spätestens die russischen Massaker an der Zivilbevölkerung von Butscha und Irpin, die Anfang April 2022 nach dem Rückzug der russischen Streitkräfte aus dem Großraum Kyjiw aufgedeckt wurden, haben den wahren Charakter des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine für alle Welt offenkundig gemacht. Wladimir Putin geht es mit seinem Angriffskrieg um die Zerstörung der ukrainischen Staatlichkeit und Identität, etwas, dass er bereits in seinem berüchtigten Essay im Juli 2021 unter dem vielsagenden Titel „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern” dargelegt hat.

Die dramatische Zäsur des Angriffs Russlands auf die Ukraine hat auch für die verschiedenen Kirchen weitreichende Folgen: Die ukrainischen Kirchen sind unmittelbar vom Krieg betroffen. Ihre Gläubigen kämpfen an der Front, sind den systematischen Luftangriffen Russlands auf zivile Einrichtungen ausgesetzt und leben teils seit den ersten Kriegstagen unter russischer Besatzung, was für viele Unterdrückung und Verfolgung bedeutet. Im Falle der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, die bisher zur Russischen Orthodoxen Kirche gehörte, ist die Identität dieser Kirche selbst in Frage gestellt. Sie sitzt (selbstverschuldet) „zwischen den Stühlen”. Die Russische Orthodoxe Kirche hat sich durch die zahlreichen kriegsverherrlichenden Äußerungen ihres Oberhaupts, Patriarch Kyrill, nachhaltig diskreditiert, während der Vatikan und der Ökumenische Rat der Kirchen versuchen vermittelnde Rollen einzunehmen, was aber zugleich bedeutet, dass der Angriffskrieg und der Aggressor von ihnen nicht entschieden verurteilt werden. In den westlichen Kirchen, insbesondere in Deutschland, hat der Angriffskrieg Russlands viele überkommene friedensethische Positionen nachhaltig in Frage gestellt und vermeintliche Gewissheiten zerstört.

Mit diesem weiten Themenkomplex wollen wir uns im Seminar auseinandersetzen: Um die heutige Situation besser zu verstehen, werden wir uns mit den bedeutendsten Linien der ukrainischen und russischen (Kirchen-)Geschichte vertraut machen. Ausführlich werden wir uns mit den verschiedenen ukrainischen Kirchen und ihren Positionen auseinandersetzen, um daran anschließend auch die Russische Orthodoxe Kirche in den Blick zu nehmen. Eingehend werden wir uns mit der Haltung und das Agieren des Vatikans unter Papst Franziskus und des Ökumenischen Rats der Kirchen beschäftigen. Schließlich werden wir auch einen Blick auf den kirchlich-theologischen friedensethischen Diskurs in Deutschland werfen, der mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine eine ganz neue Brisanz entwickelt hat. Somit vereint das Seminar in seiner Herangehensweise kirchengeschichtliche, ostkirchenkundliche und friedensethische Perspektiven.

Kurs im HIS-LSF

Semester: ST 2024