Interaktionistische Einwände gegen allzu rationalistische bzw. von Strukturen determinierte Modellierungen der sozialen Handlung gehören heute zum festen Bestandteil der Auseinandersetzung der Soziologie mit ihrem Gegenstand. Nichts erscheint vor dem Horizont der angereicherten Reflexion fragwürdiger als der Versuch, Vollzüge der alltäglichen Lebensführung(en) zuerst zu sortieren, dann typologisch zu ordnen und sodann künftige Vollzüge als »schwache Versionen« dieser als allgemein befundenen Rationalitäten zu kategorisieren. Für die darin liegende Einsicht in die »Offenheit« der Zeichenverwendung gibt es mittlerweile viele Bezugsautoren, durchaus von unterschiedlichen paradigmatischen Zugängen her (Sozialphänomenologie, hermeneutische Wissenssoziologie; genauso wie allerdings auch: philosophisch-sprachanalytisch, vom »linguistic turn« inspirierte Autoren, sowie die pragmatistische bzw. praxeologische Handlungstheorie). Eine der pointiertesten und zugleich wissenschaftstheoretisch-methodologisch folgenreichen Auseinandersetzung dazu, liegt mit dem Texten von Harold Garfinkel vor. Sein Öuvre (es sind nicht allzu viele Texte) ist dabei noch und ausdrücklich im Dialog mit gesellschaftstheoretisch interessierter (v.a. strukturfunktionalistischer) Soziologie in ihrem Verhältnis zur »Eigensinnigkeit« der untersuchten Vollzugsformen (also in permanentem Kontakt mit »der Empirie«) gewonnen, ohne Kritische Theorie zu sein und auch ohne im engeren Sinne der ethnographisch-praxeologischen Forschung (früher Bourdieu) zu entspringen. Nicht zuletzt weil die Mühlen weitergelaufen sind, zugleich heute eine gewisse Müdigkeit in der theoretischen Debatte kaum zu übersehen ist (markant etwa die quasi-metaphysisch-relativierende Annahme, alle generalisierenden Ansätze bewegten sich wie in Pendelbewegungen des Immergleichen zwischen Struktur und Handlung), lohnt sich der Blick in die Original-Quelle eines der eher schillernden Autors des Fachs. Denn was im engeren Sinne zu prüfen ist, hängt an der Frage: Lässt sich das Vermächtnis Garfinkels tatsächlich als Vordenker der Aushandlungsfreiheit der Interaktion und gegen jede Auseinandersetzung mit erstaunlich persistenten Ordnungsmustern makrotheoretischer Art betiteln oder überwiegen hier im Gewande eines hyperskeptischen Selbstgefallens im Grunde wissenschaftspolitische Interessen?

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