Wissenschaftler wie der Makrosoziologe und Träger des Leibniz-Wissenschaftspreises sowie des Communicator-Preises der DFG Steffen Mau vertreten die These, dass Deutschland im Hinblick auf die Transformation zu einer liberal-demokratischen Ordnung seit 1989 eine Sonderrolle markiert: „Im Unterschied zu anderen osteuropäischen Transformationsstaaten [gibt es] keine eigene Öffentlichkeit in Ostdeutschland, die eine […] Debatte über ihre Vergangenheit selbstbestimmt führe – Westdeutschland sei eben immer schon dabei, seitdem die Vereinigung als eine Selbstauslieferung der ostdeutschen Konkursmasse an den Westen stattgefunden habe.” (Mau in Siemons 2023). Ein 1968 wie in der alten BRD, als junge Westdeutsche die Eltern- und Großelterngeneration in einem kritischen gesellschaftlichen Diskurs nach deren Rolle und Mitwirkung während der Naziherrschaft in Deutschland 1933 bis 1945 befragen konnte, gab es nur kurz nach dem Mauerfall, nach der deutschen Einigung am 03.10.1990 aber nicht mehr. Dadurch war es den jüngeren Generationen bis heute nicht möglich, Fragen nach dem Verhalten der Eltern und Großeltern in und zur DDR – wichtig zum Verständnis des Verhältnisses von Alltag und Macht, von Institutionen und persönlichen Spielräumen in West wie in Ost – öffentlich zu klären. Laut Mau zusätzlich problematisch: Indem sich die für Ostdeutsche nach wie vor wichtigen, gesellschaftlich und medial aber unbearbeiteten Transformationsthemen für die westdeutsche Bevölkerung längst erledigt haben (siehe auch Gabriel et al. 2015), können letztere die Unterschiede, die für Osteuropäer zentral sind, nicht erkennen und die sich daraus ergebenden anderen Perspektiven nicht einnehmen und auch nicht produktiv weiter denken: Dadurch gelingt kein Verständnis der gesellschaftlichen Frustrationen in Ostdeutschland, in Osteuropa sowie in den weniger wohlhabenden westeuropäischen Ländern, werden auf den Rechtsruck, das Erstarken der AfD und zunehmende Demokratiemüdigkeit und Medienfeindlichkeit kaum zielführende Antworten gefunden.
Andere Autorinnen haben das Problem ausgeführt: So bemerkt Tröger (2019), dass westdeutsche Wirtschaftsinteressen und das Eigeninteresse der Bundesregierung eine basisdemokratische Wende in der Presselandschaft der ehemaligen DDR verhinderten” oder Mohl (2013) dass „es keine gute Idee war, die einstigen [SED]-Parteiblätter einfach ihrem Schicksal zu überlassen und selbst bei der Besetzung der Spitzenposten auf eine Regelanfrage bei der Gauck-Behörde zu verzichten,” weil damit Personen wie der 1991 von der FAZ-Geschäftsführung eingesetzte Chefredakteur der Märkischen Allgemeinen Zeitung (MAZ) und vormalige IM der Staatssicherheit der DDR „[…] Positionen ein[nehmen und verbreiten konnten], die völlig inakzeptabel […]” (Mohl 2013) und für den gelingenden gesellschaftlichen Diskurs eher nicht förderlich waren. Oder Mühl-Benninghaus (2022), dass „die Informationen über die neuen Länder im öffentlich-rechtlichen Rundfunk […] westliche JournalistIinnen […] mit jenen für Auslandskorrespondentlnnen typischen Blickwinkeln [übernahmen]”, was Konsequenzen für deren Nutzung hatte (siehe die Studie von Spielhagen 1995 und die Feststellung einer „doppelten Öffentlichkeit" durch Rosenbauer und Stolte 1995) bzw. „dass seitens der ARD keinerlei Interesse bestand, die westdeutschen Zuschauerinnen mit den ostdeutschen Erfahrungen, resultierend aus unterschiedlichen Kulturen und Identitäten, zu konfrontieren [.]” und sich „ein aus diesem Spannungsfeld erwachsender kritisch-kontrollierender und reflektierender Journalismus […] nicht entwickeln [konnte]” und „stattdessen [...] [in den neuen Ländern] nur ein oft regionalspezifischer Ratgeberjournalismus.”
In wie fern diese Einschätzungen zutreffen und wie die aus demokratischer und gesellschaftlicher Perspektive nicht gelungene Transformation des Mediensystems der ehemaligen DDR auf die heutige mediale Realität nachwirkt, wollen wir – nach rekapitulieren der Mediensystemtransformation beginnend am Ende der DDR und fortgeführt als die Bundesländer MV, BRB, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen – im Kurs am Beispiel lokaler Informationen/Medien in Thüringen untersuchen, zu denen aufgrund einer Kooperation bei einem laufenden Forschungsprojekt der TU Dresden für die TLM verschiedene Daten (Anbieterkataloge, Beitragsmitschnitte/-aufzeichnungen, Experteninterviews) vorliegen.
Als Beiträge (für Referate, Hausarbeiten, Berichte) möglich und gewünscht sind (qualitative) Analysen zur Sprache und Perspektive einzelner Berichte, systematische Analysen (standardisierte IA) zu Inhalten und Struktur der lokalen Berichterstattung, ergänzende Erhebungen über die Relevanz und das Verstehen solcher Beiträge in der Bevölkerung, zu deren Aufnahme, Verarbeitung und Verbreitung in den interpersonalen Netzwerken, zur Beteiligung an der Produktion lokaler Informationen und zur Frage, wie und auf weche Weise sich etwaige tatsächliche oder wahrgenommene Defizite von Selbstbestimmtheit im Diskurs über Transformationsfragen beheben lassen.
Literatur:
Gabriel, O. W., Holtmann, E., Jaeck, T., Leidecker-Sandmann, M., Maier, J. & Maier, M. (2015), Deutschland 25. Gesellschaftliche Trends und politische Einstellungen, Bonn.
Mohl, A. (2013). Gutachten für die Enquete-Kommission 5/1 des Brandenburger Landtags „Personelle und institutionelle Übergänge im Bereich der brandenburgischen Medienlandschaft” (https://gruene-fraktion-brandenburg.de/uploads/documents/Website_Content/110620_Gutachten_Mohl_Medienlandschaft.pdf)
Mühl-Benninghaus, W. (2022). Der Aufbau des öffentlich-rechlichen Rundfunks in Ostdeutschland. Eine Bilanz nach 30 Jahren (https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/507050/der-aufbau-des-oeffentlich-rechtlichen-rundfunks-in-ostdeutschland/).
Tröger, M. (2019). Pressefrühling und Profit. Wie westdeutsche Verlage 1989/1990 den Osten eroberten. Köln: Halem Verlag.
Oschmann, D. (2022). Wie sich der Westen den Osten erfindet (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/deutschland-wie-sich-der-westen-den-osten-erfindet-17776987.html).
Siemons, M. (2023): Gespräche über den Osten: Oschmann, Hoyer und die DDR (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/dirk-oschmann-und-katja-hoyer-ueber-die-ddr-19174941.html).
Spielhagen, E. (1995). Zuschauererwartungen und -reaktionen auf die Programmangebote von ARD und ZDF in den neuen Bundesländern. Ergebnisse der Ost-Studie der ARD/ZDF Medienkommission. Media Perspektiven, (8), 362 -392.
Stolte, D. & Rosenbauer, H. (1995): Die doppelte Öffentlichkeit. Zur Ost-Studie der ARD/ZDF-Medienkommission. Media Perspektiven, (8), 358-361.
- Lehrende/r: Jens Woelke