Seit etwa 1990 kann die Archäogenetik mit Hilfe der PCR-Technologie DNA aus Funden bergen, die älter als 100 Jahre sind (aDNA); um das Jahr 2003 kam die vollständige Sequenzierung des menschlichen Genoms hinzu. Seither gibt es nicht nur neue, wissenschaftlich-gelehrte Versuche, das genetische und das geschriebene Archiv zu einer zeitlich tieferen Geschichte der Menschheit zu verknüpfen. Die Genomforschung ist in Form von Direct-to-Consumer-Tests und in Unterhaltungsgenres aller Medienformen veralltäglicht worden und zudem in der populären Geschichtskultur präsent: Seit 2006 senden der MDR und der WDR nach dem BBC-Vorbild „Who do you think you are” (seit 2004) die Wege von Menschen „Auf der Spur der Ahnen” bzw. als „Vorfahren gesucht” im Dokuformat aus. Spielfilme und Krimiserien verwenden in ihren Plots unterschiedliche Weisen von DNA-Analysen als Motiv und dramaturgisches Element, oft in Bezug zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten darüber, wie und für welchen Zweck genetische Daten (nicht) verwendet werden sollen, wem sie gehören, und wie der Umgang damit gesetzlich reguliert ist oder sein sollte. Mit frei verkäuflichen Genetic Ancestry Tests (GAT) versprechen Unternehmen Informationen zur ‚biogeografischen Herkunft‘ von Individuen; im Vereinswesen oder als neue Assoziationen im Internet haben sich Interessensgruppen zur „DNA-Genealogie” formiert. Während Datenschutzfachleute auf die Sicherheitsprobleme angesichts der Reidentifizierbarkeit und des Drittbezugs genetischer Daten hinweisen, werden vergleichsweise einfach zu verwendende, partizipativ geführte GEDmatch-Datenbanken überall auf der Welt mit Laborbefunden und Archivrecherchen bestückt, in der Forensik und Polizeiarbeit ebenso wie von Laien auf der Suche nach ‚meiner Familiengeschichte‘, aber auch von sozialen und politischen Bewegungen zur Legitimation von Forderungen nach Anerkennung, Zugehörigkeit, Citizenship oder Territorium. Bei der Beobachtung und Analyse dieser Resonanz einer Hochtechnologie im Alltag geht es nicht zuletzt auch um unsere wissenschaftliche Aufmerksamkeit für das Wiederaufkommen und für neue Formen von rassistischen Ideen und Praktiken bei der (Selbst)Beschreibung von Menschen.

 

Im ersten Teil der Lehrveranstaltung erarbeiten wir zunächst einen aktuellen Zugang des Fachs zu diesen Phänomenen mit der gemeinsamen Lektüre der Monografie von Karen-Sue Taussig (2009) zur Etablierung, Verrechtlichung und Veralltäglichung genetischen Wissens in den Niederlanden, die insbesondere wegen der zeithistorisch vertieften Perspektive auch über die damit verbundene politische und populäre Mobilisierung von ‚Geschichte‘ in diesem Feld instruktiv ist. Im zweiten Teil präsentieren die Studierenden ausgewählte Forschungsstände anhand vertiefender Fallstudien zur alltäglichen Aneignung von ‚Genetik‘ und ‚Geschichte‘ (Studienleistung).

Kurs im HIS-LSF

Semester: SoSe 2024