Die Respiration findet als automatischer biologischer Vorgang statt, ist aber auch Ausdruck unserer Bezie- hung zur Welt und hat vielschichtige soziale, kulturelle und politische Dimensionen. In der Kulturgeschich- te fungiert der Atem oft als Metapher für Inspiration oder für den menschlichen Geist. In vielen Religionen oder spirituellen Praktiken spielt Atem als Symbol für Verlebendigung eine Rolle, genauso wie bewusstes Atmen zur Technik wird, sich mit der Welt zu verbinden und tiefere Einsicht in die eigene Verwobenheit mit der belebten und unbelebten Natur zu erlangen. Durch unser Atmen stehen wir im vitalen, für beide Seiten existentiellen Austausch mit sauerstoffproduzierenden und kohlendioxidaufnehmenden Pflanzen. Ein- und Ausatmen bedeutet durch das ständige Verinnerlichen der Umwelt und Entäußern des eigenen Organismus eine überlebensnotwendige Grenzüberschreitung. Während achtsame Atemtechniken der Entspannung und Heilung dienen sollen, ist Hyperventilation ein Ausdruck von Panik. In manchen Städten bedroht die zunehmende Luftverschmutzung längst das Überleben, insbesondere das von benachteiligten Menschengruppen, so dass ein Mangel an sauberer Atemluft zum Merkmal für Umweltrassismus wird. In den letzten Jahren übernahmen Aktivist*innen weltweit die letzten Worte des sterbenden George Floyd

„I can’t breathe“ als Schlachtruf bei ihren Protesten gegen Rassismus und Polizeigewalt. Und während der Corona-Pandemie war die fatale Gefahr, die unser infektiöser Atem anderen bringen kann, ebenso eine ständige Bedrohung wie die eigene Gefährdung durch einen Virus, der zum Ersticken führen kann.
Vor dem Hintergrund aktueller Debatten u.a. zu Ökologie, Atmosphäre, Rassismus und Environmental Injustice wollen wir uns im Seminar mit künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Atem beschäftigen. Wir betrachten das Phänomen des „Künstleratems“, Luft als immaterielles Material sowie Respiration als Prozess der Formgebung, u.a. beim Rauchen, Glasblasen, beim Spielen von Blasinstrumenten oder beim Apnoetauchen und diskutieren pneumatische Skulpturen, Darstellungen von Atem- und Gasmasken und Kunstwerke, die den Stillstand von Atem thematisieren.

Einführende Literatur:

Lin Burchert / Iva Resetar: Atem. Gestalterische, ökologische und soziale Dimensionen. De Gruyter 2021.


Semester: ST 2024