Das Recht ist in Texten des skandinavischen Mittelalters allgegenwärtig, implizit wie explizit: Isländersagas handeln von Konflikten zwischen den Mächtigen im Land; Königssagas und lateinische Chroniken berichten von den Handlungen der skandinavischen Herrscher, ihrer normativen Grundlage und deren Entwicklung; Vorzeitsagas entfalten ihre Geschichten von Helden wiederholt in einem normativen Rahmen, und zusätzlich werden häufig konkrete Handlungen bei Gericht sowie die Entwicklung des Rechts thematisiert. Zudem entstehen die mittelalterlichen Rechtstexte selbst, die Landschaftsrechte in Dänemark, Norwegen und Schweden sowie das isländische Recht im europäischen Vergleich relativ früh und erlauben gerade im diachronen Vergleich Einblicke in die Entwicklung von Herrschafts- und Ordnungsvorstellungen.
Die zweite und bedeutendere Vergleichsebene betrifft jedoch das Verhältnis zwischen Rechtstexten und Schilderungen von Konflikten sowie von der eigenen Rechtsgeschichte gerade in der Sagaliteratur, sowohl bezüglich der „klassischen”, referentiellen Genres als auch fiktionaler Texte. Über Vorstellungen davon, was das „Recht” sei und was es vorschreibe, über Erzählungen von seiner Anwendung und seiner Bedeutung für die Identität von Gemeinschaften im mittelalterlichen Norden erschließt sich also ein zentraler Bereich zeitgenössischer Mentalität und Identität und eine Triebfeder gerade auch literarischer Entwicklungen. Diese finden zudem parallel zu einer beschleunigten Rezeption des römischen Rechts in ganz Europa statt. Sie fällt wiederum zusammen mit rapiden Veränderungen in den Sozialstrukturen, mit denen sich dänische Geschichtsschreiber gleichermaßen wie isländische Sagaverfasser, norwegische Übersetzer anglonormannischer und französischer Versromane, der Autor des norwegischen Königsspiegels und natürlich Rechtsgelehrte konfrontiert sahen.
Die Vorlesung konzentriert sich abgesehen von einem knappen Überblick über Konzepte vom Recht im Mittelalter und über die skandinavischen Rechtstexte primär auf das Verhältnis der in den Rechtstexten aufgestellten Normen zum literarischen Erzählen über Konfliktaustrag und Konfliktbewältigung, über die Bedeutung von anderen, nicht-rechtlichen Ordnungskonfigurationen und Ressourcen sowie auf dahinter stehende europaweite Rechtsdiskurse.
- Lehrende/r: Roland Scheel